Seite:Die Gartenlaube (1898) 0760.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

hatte sie in der kurzen Zeit, die ihrem „Vorsehungspielen“ gefolgt war, quälende Zweifel empfunden, ob sie recht gethan. Das Gute hatte sie gewollt, das stand fest; ob es auch das Richtige war, schien ihr fraglich, besonders fraglich seit jenem Abend nach Raimunds Rückkehr aus Stettin.

Ja, jetzt mit einem raschen Entschluß das selbstgesponnene Gewebe zerreißen, offen und frei sprechen können! „Ich hab’ es gethan um deinetwillen, um dich deinem dir vom Schicksal vorgezeichneten Beruf zurückzugeben. Verzeih’ mir, daß ich es eigenmächtig that, und nimm das an, was mir kein Opfer ist, unterdrücke einmal deinen Mannesstolz, deinem Beruf, deiner Zukunft zuliebe!“ In der raschen und starken Aufwallung, die Marias Brief ihr gebracht, in dem Bestreben, deren schönes Zutrauen in sie und ihr Können zu rechtfertigen, da hätte Alix es vermocht! – – – Aber nun! Dort hinter den herabgelassenen lichten Fenstervorhängen – Alix entfernte sich nie weit vom Schlosse! rangen sie beide, das starke Leben und der starke Tod, um ihre Beute! Wer würde Sieger bleiben? Wer konnte sagen, ob das Bekenntnis, das sich nur mit schwerem Entschluß von Alix’ Lippen ringen konnte, jemals durfte gesprochen werden? –

Ein Schauer ging über sie hin mitten in Sommersonne und Blumenpracht, der Schauer, den Jugend und prangende Lebensfülle empfindet, wenn der Odem der Vergänglichkeit kalt über sie hinstreift. Gott, mein Gott, nur nicht ihn sterben lassen!

Der alte Hagedorn, der von Zeit zu Zeit vorsichtig nach dem jungen Mädchen hinübergespäht hat, sieht jetzt, daß sie mit ihrer Lektüre zu Ende ist. Es fällt ihm auf, wie traurig sie vor sich hin blickt, und im Nu ist er an ihrer Seite.

„Doch keine schlimmen Nachrichten, mein liebstes Kind?“

„Nein, gottlob, nicht!“ Sie bemüht sich, zu lächeln, steht auf und legt ihren Arm in den seinen. „Kommen Sie, Onkel Eberhard, wir promenieren noch ein Stückchen!“

„Ja, gewiß, es ist so gütig von Ihnen – nur – nur – Sie müssen nicht böse sein“ – der alte Herr sieht sie ängstlich und bekümmert an – „es ist doch schon so sehr lange, seit wir draußen sind und nicht wissen, wie – wie es ihm geht! Ich will ja gar nicht hinein zu ihm,“ setzt er hastig hinzu, „Sie – Sie können mit mir kommen, sich überzeugen, daß ich das nicht will – bloß leise an der Thür fragen, wie es steht – ob es nicht ein ganz klein wenig besser inzwischen geworden ist!“

Alix erwidert nichts und schlägt ohne weiteres den Weg nach dem Schloß ein. Ach, wie soll während einer guten Stunde der Zustand des Kranken sich geändert, wohl gar gebessert haben? Wie sanguinisch der alte Herr ist in all seiner Angst! Alix wünscht, sie könnte ebenso sein, aber ihr liegt das Herz schwer in der Brust, und es ahnt ihr nichts Gutes.

In der großen Halle herrscht wohlthuende Kühle. Das strenge, schöne Antlitz der bronzenen „Industrie“ sieht auf die Eintretenden von seiner Höhe herab wie damals an jenem traurigen Februarabend, da Alix, nach zehnjähriger Abwesenheit, ihren Einzug gehalten hatte in ihr Vaterhaus. An der Thür des Krankenzimmers nimmt Schwester Euphrosyne, die jüngere der beiden Pflegerinnen, sie in Empfang. Sie ist freundlicher, zugänglicher als ihre Kollegin, hat großes Mitleid mit der Seelenangst des alten Vaters und läßt dies auch merken, besonders, wenn die andere Schwester nicht zugegen ist.

Alix will durch die Thürspalte mit ihr flüstern, aber Euphrosyne wirft einen Blick auf den alten Mann und sagt leise: „Wollen Sie nicht ein wenig hereinkommen, alle beide? Der Zustand ist derselbe, der Kranke ahnt nichts von Ihrer Anwesenheit. – Sie können auf meine Verantwortung nähertreten!“

Der Vater läßt sich das nicht zweimal sagen, drückt der jungen Pflegerin dankbar die Rechte, geht auf den Fußspitzen zum Krankenlager und zieht seine Begleiterin an der Hand mit sich.

„Aber, bitte, nicht anreden, Herr Hagedorn!“ warnt Schwester Euphrosyne leise. „Auch nicht antworten, wenn Sie denken, er spricht mit Ihnen!“

„Nein, nein!“ murmelt der alte Mann. „Ich will ihn bloß still ansehen!“

Raimund liegt unbeweglich, nur die Hand greift und zuckt zuweilen oder sein Kopf schiebt sich ein wenig auf dem Kissen hin und her, wie wenn er etwas suchen wolle. Die Augen sind halb geschlossen, und die Lippen flüstern beständig.

„Das weiße Kleid – das weiße Kleid! Ja, das zieh’ an – und dann soll wieder der Magnolienstrauch im Abendwind zittern und soll dich mit seinen weißen Blüten überschütten …. aber du darfst nicht wissen, daß ich davon träume! Und weiße Moosrosen stecke wieder an die Brust wie die, die du mir gegeben – immer fühl’ ich den Duft – aber wo sind sie hingekommen – die weißen Moosrosen? Und wo – wo bist du hingekommen – du selbst?“

Ganz rasch und eintönig, wie etwas Eingelerntes, flüstert Raimund das vor sich hin, zuweilen verwischt sich ein Wort. Jetzt wendet er den Kopf von neuem auf dem Kissen und scheint zu horchen, ob denn keine Antwort kommt.

Er hat noch nie von Alix gesprochen, wenn sie bei ihm war – – – stets nur von Musik. In ihr zieht sich das Herz zusammen und thut dann bange, laute Schläge. Der alte Vater und die Pflegerin wissen nicht, können nicht wissen, was und wen er meint mit seinen Worten …. sie natürlich versteht, weiß, was der Magnolienstrauch zu bedeuten hat und das weiße Kleid und die Moosrosen! Die hatte sie im Walde, als sie den Verwundeten langsam vor ihr hertrugen, zufällig noch an ihrer Brust entdeckt, wo Frau von Sperber sie ihr in aller Morgenfrühe befestigt, und sie hatte sie losgenestelt und auf die Decke gelegt, die sie über den Schwerverletzten gebreitet hatten. Zuweilen hatten sich seine Augen halb geöffnet gehabt, es war ein verständnisloser Blick gewesen, der seine Umgebung streifte, und Doktor Petri hatte gesagt, er sei ganz ohne Bewußtsein .... aber er mußte doch Alix für einen Augenblick erkannt und die weißen Moosrosen gesehen haben.

„Keiner kann mir das sagen als nur mein Herz! Aber das hat zu rasch zu schlagen – kann nicht folgen – auch nicht im Takt – gar kein Takt! Aber wenn ich dich finde – weißt du noch: ,Am stillen Herd, – in Winterszeit‘ – da fing es an! Sing’ mir einmal nach!“

Und er fängt an zu summen: „Am stillen Herd, – in Winterszeit –“

Alix erträgt das nicht mehr; sie winkt mit der Hand, sie wolle gehen, man möge sich nicht um sie bekümmern, und verläßt das Gemach.

Doch lange bleibt sie nicht in ihrem Zimmer, in das sie sich geflüchtet hat, sich selbst überlassen. Die Majorin klopft, und als sie Einlaß erhält, sagt sie, indem sie mit der Hand über des Mädchens Haar streicht: „Möchten Sie nicht in Ihren kleinen Salon kommen, sobald es Ihnen möglich ist? Justizrat Ueberweg ist da und möchte Sie gern sprechen!“

Alix erhebt sich stumm, haucht rasch in ihr Tuch und drückt es gegen die Augen.

*  *  *

„Meine liebe Alix,“ – der Justizrat kam ihr mit herzlicher Bewegung entgegen – „ich bin der Ueberbringer wichtiger Nachrichten. Doch zunächst … wie geht es unserem Kranken?“

„Ich fürchte, nicht gut!“

„O, nicht so kleinmütig! Kopf hoch, liebe Alix! Hagedorn ist jung und kerngesund – ein Körper wie von Eisen, sagt Petri selbst! Er wird es durchsetzen, und ich werde ihm noch dankbar seine Künstlerhand schütteln dürfen. Warum ich komme: es sind noch keinerlei Gerüchte über diesen – diesen Harnack bisher zu Ihnen gedrungen, nicht wahr?“

„Ueber den älteren oder den jüngeren Bruder?“

„Den Junior, liebes Kind, den Junior! Was den älteren betrifft, so geht er ja einstweilen auf freiem Fuß einher: ich meine den Verhafteten. Dieser hatte eine schlecht geheilte Schnittwunde in der linken Hand, innerhalb der Fläche: ich weiß nicht, ob man Ihnen davon gesprochen hat; jedenfalls hat der junge Mensch die Sache gar nicht beachtet und nichts dafür gethan. Wohl aber alles dagegen. Er hat ein Leben geführt, wie man jetzt erfahren hat – nun, das gehört nicht hierher – jedenfalls hat seine starke Neigung zum Alkohol die Wunde sehr verschlimmert. Sie hat so böse ausgesehen, daß man ihm sofort nach seiner Verhaftung durch Korty den Arzt ins Untersuchungsgefängnis geschickt hat. Der hat strenge Verhaltungsmaßregeln

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0760.jpg&oldid=- (Version vom 20.2.2023)