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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

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Das Kartenschlagen.

Von Dr. P. Schellhas.

Es war zu einer späten Abendstunde im Floréal des Jahres I der französischen Republik – im Mai 1703 –, als drei Männer die Rue Tournon in Paris durchschritten und das Haus Nr. 153 (heutzutage Nr. 5) betraten. An der Thür des Hauses sah man ein Schild mit der Aufschrift „Mlle. Lenormand, Buchhändlerin.“ Die drei Männer waren unauffällig gekleidet und in große Mäntel gehüllt, indessen ein aufmerksamer Menschenbeobachter hätte in ihren Zügen doch eine beredte Sprache lesen können. Der erste hatte einen intelligenten Gesichtsausdruck, und seine dünnen, fest zusammengepreßten Lippen verrieten rücksichtslose Entschlossenheit und die Fähigkeit grausamen Hasses, der zweite zeigte wilde, gemeine und brutale Züge und die funkelnden Augen eines Tigers, der dritte ein ideal schönes, schwärmerisches Antlitz, aber zugleich den leidenschaftlichen Ausdruck eines Fanatikers seiner Ueberzeugungen.

Die Männer betraten ein einfach ausgestattetes Zimmer und wurden von einer stattlichen jungen Dame anfangs der zwanziger Jahre mit klug blickenden Augen empfangen.

„Bürgerin Lenormand,“ sagte der eine der Besucher, „erschrecken Sie nicht! Wir wünschen von Ihnen unsere Zukunft zu erfahren.“

Die Angeredete stutzte eiuen Augenblick, mischte dann mehrere Kartenspiele und begann die Karten auf dem Tische auszubreiten. „Ihr Schicksal war mir schon bekannt, Bürger,“ sagte sie dann zögernd und sehr betreten, „und die Karten bestätigen es auch heute wieder. Erlassen Sie mir, es auszusprechen, fragen Sie nicht!“

„Wir sind nicht Männer, die man durch Prophezeiungen schrecken kann. Sprechen Sie!“

„Nun, wenn Sie es denn wünschen: Sie werden, ehe noch das kommende Jahr vollendet ist, alle drei eines gewaltsamen Todes sterben –“

Die Besucher entfernten sich mit gezwungenem Lachen.

Es waren Robespierre, Marat und Saint-Just. Marat wurde zwei Monate später von Charlotte Corday ermordet, die beiden andern endeten im Juli 1794 auf der Guillotine. Und die Wahrsagerin, die ihnen ihr Schicksal vorhergesagt hatte, war die berühmte Kartenlegerin Lenormand, die Sibylle von Paris …

So wird uns erzählt, und wer die damalige Zeit kennt, der wird kein Bedenken haben, an dieser Erzählung jedenfalls so viel für wahr zu halten, daß die drei großen Revolutionsmänner in der That die bekannte Kartenlegerin aufgesucht haben. Zur Zeit, als diese Scene spielte, griff das Schicksal gewaltig in die Lebensverhältnisse ein. Menschen, die heute noch angesehen und wohlhabend dastanden, bestiegen auf irgend ein unvorsichtiges Wort, eine heimtückische Denunziation hin morgen das Schafott; charakterlose Abenteurer aus der Hefe des Volkes kamen zu Ehren, um über kurz oder lang von ihrer Höhe zu stürzen; zahllose Familien hatten Angehörige, die in den Gefängnissen schmachteten, aus denen es selten einen andern Ausgang gab als den zur Guillotine. Der Boden war mit Blut gedüngt, niemand war des morgigen Tages sicher. Eine solche Zeit war dem Wahrsagewesen günstig wie keine zweite. Alle Gesellschaftsklassen strömten in das kleine unscheinbare Haus in der Rue Tournon, in dem vom Jahre 1792 bis zu ihrem Tode die Sibylle wohnte, die mit Hilfe der Karten den dunklen Schleier der unheimlichen, drohenden Zukunft zu lüften verstand und von deren Kunst man Wunderdinge erzählte.

Marie Anne Lenormand war im Jahre 1790 als junges Mädchen nach Paris gekommen, um sich einen Broterwerb zu suchen. In Alençon (Orne) 1772 geboren, hatte sie eine gute Erziehung im Kloster der Benediktinerinnen genossen; sie war nicht ungebildet und vor allem eine Menschenkennerin ersten Ranges, von feiner Beobachtungsgabe und sicherem Takt, den sie oft bei ihren Wahrsagungen hochstehenden Persönlichkeiten gegenüber zu bewähren hatte. Es mag sein, daß sie überdies eine hochgesteigerte Fähigkeit besaß, aus der Gegenwart, aus den gegebenen Situationen und aus den Charakteren der Personen, die sie aufsuchten, im natürlichen Zusammenhang der Dinge auf die Zukunft zu schließen. Nur diese Eigenschaften können die Erfolge erklären, die sie erzielte. Ihre Karten dienten ihr dabei wahrscheinlich nur als nebensächlicher Hokuspokus, als äußerliches Beiwerk für ihre nach den Schilderungen der Zeitgenossen oft wunderbar zutreffenden Prophezeiungen.

In der Lenormand erreichte ein Aberglaube seine höchste Blüte, dessen Entstehung und Entwicklung wir in Frankreich vorzugsweise beobachten können. Die abergläubische Kunst des Kartenschlagens oder Kartenlegens wurde von jeher in den romanischen Ländern besonders gepflegt. Die romanischen Völker sind im allgemeinen mehr zum Aberglauben und zu phantastischer Mystik geneigt als die nüchterne germanische Rasse. Die abergläubische Sitte tritt gleichzeitig mit den Spielkarten überhaupt in Europa auf, sie wurde gegen Ende des 14. Jahrhunderts besonders durch die Zigeuner, die Träger und Vermittler so vielen Aberglaubens, eingeführt und fand allmählich immer weitere Verbreitung.

Wir hören, daß schon unter Ludwig XIV eine gewisse Marie Ambruget großes Ansehen als „Cartomancienne“ genoß, wie der französische Ausdruck für diese Art von Wahrsagerinnen lautet. Sie soll dem König den Sieg bei Denain über den Prinzen Eugen vorhergesagt haben, wofür sie nach Eintreffen ihrer Prophezeiung von dem „Roi solei“ ein Honorar von 6000 Livres erhalten haben soll. Unter Ludwig XV begann die Kartenschlägerei bereits in der guten Gesellschaft Mode zu werden; es werden uns die Namen verschiedener Kartenschläger und Kartenschlägerinnen genannt, die großen Zulauf hatten.

Kein Aberglaube ist so dumm und ungereimt, daß man ihn nicht in ein System bringen könnte. Wie Frankreich in der Lenormand die berühmteste Pythia des Kartenschlagens hervorgebracht hat, so war auch der erste Theoretiker dieser „Kunst“, der sie mit vieler Gelehrsamkeit zu einer „Wissenschaft“ erhob, ein Franzose. Alliette hieß dieser „Gelehrte des Kartenschlagens“, er war ein Perückenmacher seines Zeichens. Unter dem Pseudonym Etteilla, einer Umkehrung seines Namens, schrieb er in den Jahren 1780 bis 1790 – also vor der Lenormand – sehr tiefsinnige Werke über die Theorie der Kunst, aus den Karten zu wahrsagen, eine Sammlung abergläubischer und phantastischer Weisheit, angeblich aus uralten ägyptischen und chaldäischen Quellen geschöpft. Er wurde der Hohepriester des Kartenschlagens, der dem Aberglauben Ordnung und System gegeben hat, und noch heute gilt er als der Meister der Theorie dieser Kunst; die zahllosen Anleitungen dazu stützen sich auf die Autorität des „berühmten Etteilla.“

Ueber Alliette und seine Anhängerschaft brausten die Stürme der Revolution dahin, und in den gewaltigen politischen Umwälzungen verschwand er vom Schauplatze der öffentlichen Wirksamkeit, die für ihn immerhin so einträglich gewesen war, daß er ein eigenes Haus in Paris und ein nicht unbedeutendes Vermögen besaß. Er hatte den Boden vorbereitet für das Auftreten seiner größeren Nachfolgerin, der Lenormand, die ihm in der Praxis bedeutend überlegen war. Sie, die in einer Zeit der gewaltigsten politischen Umwälzungen in Europa lebte, sah in ihrem Kabinett fast alle Größen, geistige und politische Berühmtheiten ihrer Epoche, sie hat unter vier Augen mit ihnen gesprochen, ihre geheimen Wünsche erfahren, sie hat ihre Physiognomien, ihre Charaktere studiert, ihre verborgenen Schwächen beobachtet. In der That, die Lebensgeschichte der Lenormand bietet uns eine der seltsamsten Komödien des Aberglaubens – ein heiteres Schauspiel glücklicherweise, denn wir können nicht sagen, daß der Einfluß der berühmten Sibylle irgendwie direkt unheilvoll gewesen sei. Dazu war sie zu sehr die Wahrsagerin der großen Welt, in der man den Ton des Anstands wahren mußte. Man kann nur staunen, wenn man hört, wer alles bei ihr sich Rat erholt hat. Wenn sie ihre Memoiren geschrieben hätte, so würden wir darin zweifellos manchen interessanten Beitrag zur intimeren Zeitgeschichte finden. Leider hat sie nur eine Reihe von Schriften hinterlassen, die zwar vielfach an die politischen Ereignisse der Zeit anknüpfen, aber von phrasenhaftem Stil, mit Prophezeiungen untermischt und ohne tieferes Interesse sind. Diese Werke hatte sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 768. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0768.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)