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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Ein bitteres Lächeln umspielte die blassen Lippen des Kranken. „Möcht’ wissen, was uns no Aerg’res passier’n könn’t“ sagte er dann mit finsterem Trotz. „Wie lang’ wird’s denn dauern, so trag’n s’ mi hinaus? Und wie soll i denn sterb’n, wann i net waß, was mit euch g’schiecht?“ Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: „Gott, Gott, hörst mi denn net? Was soll denn aus die Meinigen werd’n?“

Die Frau trat zu ihm hin, legte die Hand auf seine Schulter und versuchte, ihn zu trösten.

Da tönte aus der Ecke des Zimmers ein unartikulierter Laut: „Pa–pi–Pa–pi, Franzi Papi!“ Ein kleines krüppelhaftes Kind von etwa sechs Jahren mit einem unverhältnismäßig großen Kopfe lallte diese Worte mit weinerlicher Stimme und wiederholte sie ohne Unterlaß, ab und zu mit den Lippen schmatzend.

„Hörst ’n, hörst ’n?“ rief der Vater. „Er hat an’ Hunger und mir können ihm nix geb’n!“ Ein gurgelnder Schmerzenslaut drang aus seiner Kehle; er sank in sein Kissen zurück und stöhnte: „Himmlischer Vater, mach’ a End’! Das ertrag’ i net länger.“ „Sei schön brav, Franzi,“ sagte die Frau. „Die Mizerl kommt glei und bringt dir a Papi! Hörst, sie kommt schon!“

Die Thüre wurde geöffnet und Mizerl trat mit einem Körbchen auf dem Arme ein.

„Na, hast ’was ’kriegt?“ fragte die Mutter hastig.

„Der Holzmann hat mir die Kohl’n ’geb’n,“ antwortete das Kind.

„Und das andere?“ Die Mutter öffnete das Körbchen, und als sie nur ein Häufchen Kohlen gewahrte, senkte sie trostlos das Haupt und getraute sich nicht, zu ihrem Gatten aufzublicken.

„I hab’ das Brot und die Erdäpfeln schon im Körbel g’habt. Wie i aber g’sagt hab’: i bleib’s derweil schuldig, hat m’r s’ die Greislerin wieder aus’n Körbl g’nommen. Bis das andere zahlt is, hat s’ g’sagt – nachdem kriegst wieder ’was. Mir san selber arme Leut’, mir können nix borgen.“

Als der leidende Knabe in der Ecke das Körbchen sah, richtete er sich von seinem Lager auf und sah mit gierigen Blicken nach der vermeinten Nahrung. Eine kindische Freude leuchtete aus seinen Augen; er patschte die Hände zusammen und jauchzte: „Papi, Papi, Franzi auch Papi!“

Die Mutter richtete einen verzweifelten Blick nach dem Kinde und sagte, um es zu beruhigen und zum Einschlafen zu bringen: „Sei still, Franzi, glei kriegst a Papi; da schau, da stell’ i ’s schon an Herd. Mach’ derweil heidi – heidi!“ Sie stellte in der That ein Gefäß mit Wasser auf den Ofen, um das ungestüme Verlangen des Knaben zu besänftigen; dann machte sie mit dem Kohlenvorrat ein kleines Feuer an, um wenigstens die unerträgliche Kälte zu mildern.

Mizerl hockte sich indes zu dem armen Knaben und flüsterte ihm allerlei schöne Dinge zu, um ihn in einen wohligen Schlummer zu lullen. „Unten in der Einfahrt hab’ i ’s Christkinderl g’seg’n,“ sagte sie, „a schönes, schönes Kinderl mit an’ goldenen Flinserlg’wand und blaue Augen und ’krauste Haar. So a feine Stimm’ hat’s g’habt wie a Kanarivogel und Flügeln hat’s g’habt, so weiß wie die Tuchet, die bei der Hausfrau ihr’n Fenster in der Fruah immer heraushängt, und rundumadum san lauter Christbam’ g’standen mit hundert und hundert und tausend Lichtln und a Menge Spielerei war da, alles von Seiden und rot und lila: Wursteln und Gretln und Hutschenpferd’ und Bilderbüacher und Farb’nkasteln, soviel schön sag’ i dir! Und nachdem hat mi ’s Christkindl g’fragt mit seiner feinen Stimm’: ‚Is der Franzi a g’wiß brav? Verlangt er net immer Papi, macht er schön heidi heidi?‘ – ,A g’wiß,‘ hab’ i g’sagt, ,Euer Gnaden, Herr Christkindl, der Franzi is a g’scheiter Bua, der macht immer heidi heidi.‘ Drauf hat ’s Christkindl in a Butt’n griffen und hat g’sagt: ,Sixt, das kriagt alles der Franzi, wann er schön heidi heidi macht? Du, das war’n gute Sachen: Aepfel und Birn’ und Nuß – alle von Gold, und Kipfeln und Schokoladizeltln –“

Die Augen des Knaben glänzten wieder bei Aufzählung dieser Herrlichkeiten; dann aber schloß er sie zu, um davon zu träumen, und während er langsam einschlummerte, flüsterte ihm sein Schwesterchen die Namen all der Süßigkeiten zu, die sie wohl selbst nur vom Hören kannte. Endlich war er gänzlich eingeschlafen und machte im Schlafe die Bewegung des Essens; wahrscheinlich spendete ihm das Christkindlein im Traume alles das, was ihm das Leben versagte. Nachdem sich Mizerl überzeugt hatte, daß ihr Bruder schlief, drückte sie einen Kuß auf seine Stirne und suchte dann auch ihr ärmliches Lager in der Nähe des Fensters auf.

Während so die Kinderphantasie mit rosigen Bildern den Ernst des Lebens ausschmückte, saßen die Eltern in dumpfer Verzweiflung auf ihrem Lager. Wie sehr sie sich auch ihr Gehirn zermarterten, nirgends sahen sie einen Ausweg, nirgends zuckte ein Hoffnungsstrahl auf, der ihnen Rettung versprechen konnte. Ueberall grinste ihnen das Bild einer schrecklichen Zukunft entgegen: Obdachlosigkeit, Hunger, Verderben! Ruhelos wälzten sie sich auf ihrem Lager, seufzend und stöhnend. Endlich senkte sich der Schlummer auch auf die Lider der Frau und entrückte sie den qualvollen Sorgen des Lebens.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0796.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)