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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Wie ich’s wissen könnte? Hätte man das Furchtbare gewußt, so hätte ja der Nächstbeste geholfen. Ich wollte aber helfen, wenn auch nicht das Aergste bevorstand, und ich that groß damit und schätzte mich besser als die andern.“

Sie stand auf und klingelte.

„Was willst du thun?“ fragte der Gatte.

„Ich muß zu dem Kinde. Ich will ihm helfen. Vielleicht kann ich an ihm zum Teile sühnen, was die Trägheit meines Mitgefühls verschuldet.“

Sie fuhr nach dem Unglückshause, vor dem noch jetzt eine Menge Gaffer stand. Sie fragte bei den Hausleuten nach, wo sich das kleine Mizerl befinde. Man konnte ihr keine Auskunft geben. Sie habe sich im Laufe des gestrigen Tages erholt, dann sei ein alter Herr gekommen, den niemand kannte, und habe das Kind fortgeführt. – Traurig und von Selbstvorwürfen gepeinigt, trat Frau Hilbert ihren Rückweg an.


4.

Es war ein prachtvoller Herbstmorgen. Wie ein heiteres Idyll lag das romantische Kahlenberger Dörfchen inmitten der üppigen Weingelände unweit des mächtigen Donaustromes gebettet. Glitzernd schimmerte der Tau auf den Blättern der Bäume, deren spärlich belaubte Kronen den ersten Frost bereits empfunden hatten, gleich einem Mahnboten an die Zeit, wo alles Leben unter der starren Winterdecke erstirbt. An solchen Abschiedstagen des Lebens schmückt sich die ersterbende Welt mit doppeltein Reiz. Die Luft ist klarer und durchsichtiger und das milde Sonnenlicht übergießt die tiefen Farbentöne des Herbstes mit seinem verklärenden Schimmer.

Auf der Landstraße von Nußdorf her kam ein offener Wagen, der vor dem schönsten Hause des Dorfes hielt. Dieses Haus mochte dereinst ein Jagdschlößchen gewesen sein, deren die lebensfrohe Kaiserin Maria Theresia in der Umgebung ihrer Residenz eine große Anzahl besaß. Der freundliche Bau sowohl wie manches charakteristische Beiwerk lassen auf eine solche Bestimmung schließen. Die meisten dieser Bauten, deren Jnnenräume manch schönes Geschichtchen von heiterer Pracht und fröhlicher Lebenslust erzählen können, dienen gegenwärtig sehr profanen Zwecken. Dieses Haus bildet jedoch eine Ausnahme und das edle Herz der großen Kaiserin würde freudiger pochen, könnte sie auf ihren einstmaligen Lustsitz herniederblicken: denn der geräumige Garten hallt den Tag über wieder von dem hellen Lachen fröhlicher Kinderstimmen. In den großen lichten und luftigen Zimmern sind mehr als ein halbes Hundert Kinder untergebracht. Alles glänzt und gleißt von peinlicher Sauberkeit. In den Schlafsälen stehen die Bettchen in kleinen Zwischenräumen gereiht. Der Speisesaal enthält lange, blank gescheuerte Tische und kleine zierliche Tischchen für die Kleinsten mit daran befestigten Bänken. Ein größerer Saal dient für die feierlichen Anlässe wie das Kaiserfest und die Christbescherung. Passende Bilder, häusliche Scenen und erbauliche Vorfälle des Lebens darstellend, hängen an den Wänden. Die Bildnisse des Kaiserpaares sowie des Kronprinzenpaares schmücken die Längswand. Auch die Bilder der Wohlthäter und Stifter des Hauses sind allenthalben an den Wänden angebracht. Die Schulräume enthalten in Glasschränken und an den Wänden mannigfachen Lehrstoff zum Anschauungsunterricht. Da und dort fällt der Blick auf breite Papierstreifen, die in großen, weithin sichtbaren Lettern mit goldenen Sprüchen des sittlichen Lebens, der Arbeit und Zufriedenheit bedruckt sind. In dem freundlichen Garten vor dem Hause bringen die Kinder an schönen Tagen ihre freie Zeit mit gesunden Leibesübungen, mit Gesang und heiteren Spielen hin.

So ist die Anstalt beschaffen, die der Verein „Humanitas“ vor mehr als zwanzig Jahren ins Leben gerufen hat und unter der Mitwirkung edler Menschenfreunde zum Segen armer verlassener Menschenkinder mit unermüdlicher Liebe und Werkthätigkeit leitet.

Der Wagen, dem ein freundlicher alter Herr und eine blonde Dame entsteigen, hat vor dem Gitterthore des Kinderasyls „Humanitas“ gehalten. Durch das Gitter schauen ein paar Dutzend fröhliche Kinder, und als sie den alten Herrn erblicken, rufen sie jubelnd: „Guten Tag, Papa!“

„Gott grüß’ euch Kinder, wie geht’s euch denn?“ sagt der alte Herr, der gleich von einem Rudel von Knaben und Mädchen umringt wird. Die einen hängen sich an seine Hände, die andern springen trällernd vor ihm her; auch die ganz Kleinen wackeln herzu und halten sich an seinen Rockschößen fest. Der Kreis wird immer dichter, da auch die übrigen Kinder die Ankunft des „Papas“ bemerkt haben und ihre Spielplätze verlassen, um ihren väterlichen Freund zu begrüßen.

Er kennt sie alle, seine Schützlinge, und nennt jeden beim Namen, fragt nach ihren kleinen Schmerzen, erkundigt sich über ihre Fortschritte und lobt ihr Aussehen. Vom sechzehnjährigen Mädchen, das, mit allen Fertigkeiten und Kenntnissen zu einem Leben der Arbeit ausgestattet, im Begriffe steht, die Anstalt zu verlassen, bis zum einjährigen Kleinen, das auf dem Arme der Mutter, wie man die Direktorin nennt, mit lachendem Gesicht und zappeligen Händchen herbeigetragen wird, kennen und lieben sie ihn alle, ihren guten Papa.

„Sehen Sie, gnädige Frau,“ sagte Herr Amsel zu der ihn begleitenden Dame, „das sind meine schönsten Stunden. Seit vielen Jahren bringe ich wöchentlich zwei- bis dreimal meine freie Zeit inmitten meiner kleinen Schutzbefohlenen zu. Und ich verdanke diesem Verkehr mehr innere Erhebung, mehr reine menschliche Freude, als mir der Umgang mit der besten Gesellschaft gewähren könnte. Blicken Sie um sich! Sie sehen lauter frohe zufriedene Gesichter, Gesundheit blüht auf ihren Wangen: mit Freuden lauschen sie den Lehren, die ihnen in der Schule zu teil werden, willig folgen sie den Weisungen ihrer mütterlichen Freundin. Man sieht selten eine Aufwallung des Zornes oder einen Akt der Störrigkeit und Bosheit. Und doch hat fast jedes dieser Kleinen eine gar traurige Vorgeschichte. Dem Elend und der Verkommenheit wurden sie entrückt, als sie in den sichern Hafen unseres Asyls gelangten, aber wir sehen zu unserm Troste aus ihren heiteren Mienen, daß jene Wunden vernarbt sind, daß die Erinnerung an schlimme Kindheitstage verklungen ist wie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0798.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2023)