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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

vor Glück; sie hob den Finger, wie um zu lauschen, und flüsterte: „Hörn S’, jetzt singt er wieder! O, wie schön!“

Wochen waren so vergangen und die Werbungen der Frau Hilbert um die Liebe des Kindes hatten Erfolg. Es sehnte sich nach dem Erscheinen der guten sanften Frau, und wenn diese ihm mit bebenden Lippen erzählte, daß es, sobald es gesund sei, in einem schönen Wagen fahren dürfe und daß sie ihm herrliche Spielsachen zugedacht habe, da lächelte es selig vor sich hin und küßte die Hand seiner freundlichen Beschützerin. Freilich wurde das Gesichtchen immer blässer, die Augen immer größer und glänzender und die Aerzte, die Frau Hilbert in ihrer Seelenangst herbeirief, zuckten bedenklich die Achseln.

Eines Tages war Mizerl heiterer und frischer; die Direktorin teilte Frau Hilbert freudig mit, daß die Kleine sogar mit regem Appetit Nahrung zu sich genommen habe. Frau Hilbert atmete auf. Mit zitternder Hoffnung hing sie an den Augen des Kindes.

Durch die offenen Fenster leuchtete die Frühlingssonne und durchflutete mit ihren wärmenden Strahlen die Krankenstube. Das Kind legte die Aermchen um den Hals seiner Freundin und flüsterte ihr zu: „Morgen gehe ich mit Ihnen.“

„Mein liebes Kind, das hat noch Zeit, bis du ganz gesund bist,“ sagte lächelnd Frau Hilbert.

„I bin aber schon g’sund.“ Mizerl blickte ängstlich um sich und flüsterte Frau Hilbert geheimnisvoll zu:

„J kann ja nimmer da bleiben; das Vogerl singt net mehr!“

Frau Hilbert erblaßte. Ein jäher Schreck durchzuckte ihre Glieder. Das Kind aber blickte mit seinen großen Augen schwärmerisch hinaus in den blühenden Frühling und sagte wie im Selbstgespräch: „Fortg’flogen is’s und richt’ meine Grüße aus.“

„Wen hast du denn grüßen lassen?“ fragte Frau Hilbert.

„No, die Eltern und die Geschwister!“

Frau Hilbert besprach sich kurz darauf mit dem Arzte, der das Gemütsleiden des Kindes auf die Nervenerschütterung zurückführte, die es bei der furchtbaren Katastrophe erlitten hatte. Wenn es gelänge, die Bilder jener Schreckensnacht aus ihrer Kinderseele zu verdrängen und durch heitere Vorstellungen zu ersetzen, dann könnte auch ihr Körper wieder neue Kräfte gewinnen!

Frau Hilbert befolgte diesen Rat und versuchte all die Reizmittel, welche sonst auf die Kinderphantasie erheiternd einwirken. Sie veranstaltete Gartenfeste, sie fuhr mit ihr und einigen Altersgenossinnen ins Grüne, ließ sie an den Spielen der Kinder teilnehmen, doch alles blieb vergebens. Die stille Schwermut lagerte wie Mehltau über den Freudeblüten ihres kindlichen Gemüts.

Inmitten der fröhlichen Kinderschar blickte sie weltvergessen und teilnahmlos in die Ferne.

Verzweifelt sah ihr Frau Hilbert ins Antlitz. „Sag’, Mizerl, womit könnte ich dir denn eine Freude machen?“

Mizerl blickte auf und Thränen füllten ihre Augen.

„I möcht’ zu die Meinigen,“ schluchzte sie.

Am andern Tage fuhr Frau Hilbert mit ihrem Schützling nach dem Centralfriedhofe. Es war ein milder Frühlingstag. Die Kastanienbäume hatten ihre weißen Blütenkerzen aufgesteckt und alle Sträucher hauchten ihren Blütenduft aus. Warm und mild strich ein leiser Zephyr durch den Garten des ewigen Friedens und Vogelgezwitscher drang aus den blütenbeladenen Zweigen.

Vor einem blumengeschmückten Grabhügel blieb Frau Hilbert stehen. „Da ruhen sie, Vater und Mutter, Brüderchen und Schwesterchen,“ sagte sie zur Mizerl, „friedlich und schmerzlos liegen sie da und ihre Seelen blicken aus den Höhen herunter auf dich und sind betrübt, wenn sie deine Thränen sehen, und freuen sich, wenn du lachst.“

Mit Mizerl war indessen eine wundersame Verwandlung vor sich gegangen. Sie blickte um sich, sah den blühenden Garten ringsum und ein tiefer Seufzer der Erleichterung hob ihre Brust. Wie giftige Nebel flohen die Schreckbilder der Erinnerung vor diesem friedlich stillen Frühlingsweben. Mit leuchtenden Augen sah sie zu ihrer Beschützerin auf und: „Da, da, hören Sie nicht “ flüsterte sie ihr entzückt zu: „Das Vogerl singt!“

In den Zweigen einer Trauerweide saß ein Singvogel und schmetterte seine Liebesweisen, die ihm die warme Frühlingssonne in die Brust gesenkt, in die blütendurchhauchte Luft. Dann schwang er sich empor, immer höher und höher, tirillierend und jubelnd, dem Lichte zu, ein Bild des Lebens und der Daseinslust.

Entzückt folgten die Augen des Kindes seinem Fluge, bis er im Sonnenglast verschwand. „Den hab’n s’ mir geschickt in mein Zimmer, wie i krank war,“ sprudelte sie hervor, „und jetzt fliegt er hinauf in den Himmel – gelt – er bringt ihnen jetzt meine Grüß?“

Frau Hilbert bestätigte den frommen Wahn des Kindes.

Von diesem Tage an war der Bann der Schwermut von dem Kinde gewichen. Wenn es an die Seinen dachte, so stellte sich das freundliche Bild des blühenden Friedhofs vor seinen Augen ein und der gefiederte Vermittler, der ihr heitere Botschaften brachte aus dem Reiche des Lichts.

Allmählich sänftigten sich auch diese Empfindungen und das Kind schloß sich mit der ganzen Leidenschaft seiner liebedürstenden Seele an die gütige Frau an, die ihr eine zweite Mutter war.

Nach wenigen Monaten hatte Frau Hilbert die Freude, ein lebensfrohes, rotbackiges Mädchen mit blitzenden Augen und heller Stimme zu den fröhlichen Gefährten im Asylhause des Kahlenbergerdorfes – diesmal als Gast – führen zu können. Mit kindlicher Freude nahm Mizerl an ihren Spielen teil. Glückstrahlend folgte ihr Frau Hilbert mit den Blicken. Und als sie dann das blonde Lockenhaupt des Kindes in ihrem Schoße hielt, reichte sie Herrn Amsel die Hand und sagte: „Ihnen verdanke ich mein Glück; denn hätten Sie das arme Kind nicht in Ihrer Anstalt geschützt und gehegt, die zarte Blüte wäre dahingewelkt, ehe ich mich meiner Pflicht entsonnen hätte.“


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Durchgegangene Eisenbahnzüge.

Von W. Berdrow.

Die schwersten Eisenbahnunfälle werden dadurch hervorgerufen, daß ein in Bewegung befindlicher Zug an einer Stelle, wo er entweder fahrplanmäßig oder durch ein besonderes Signal angehalten werden sollte, mit unverminderter Schnelligkeit weiterfährt. Das Versagen der Bremsen oder in vereinzelten Fällen auch der Dampfabsperrventile an der Lokomotive, das Uebersehen eines Signals oder eine vorübergehende Kopflosigkeit, ja in vereinzelten Fällen plötzlich eintretender Wahnsinn des Lokomotivführers geben hin und wieder den Anlaß zu einem derartigen „Durchgehen“ eines Zuges oder einer Maschine.

Ein Fall dieser Art ereignete sich am 16. November 1896 in Berlin. Es handelte sich um einen derjenigen Südringzüge, welche auf der Hälfte ihres Weges in der Kopfstation des Potsdamer Bahnhofes zum Stillstand kommen und ihre Fahrt von hier aus mit einer neuen Lokomotive in entgegengesetzter Richtung fortsetzen. Das Gleis erfährt, da die Bahn kurz vorher einen Spreearm überschreitet, gegen den Bahnhof hin eine beträchtliche Senkung, obwohl die Perronhalle bedeutend höher als das umgebende Straßenniveau liegt. Die Züge müssen, wie stets vor der Einfahrt in Kopfstationen, schon in bedeutender Entfernung vom Bahnhof stark gebremst werden, um ihre lebendige Kraft zu vernichten, und die Einfahrt erfolgt alsdann unter Anwendung von wenig Dampf in ganz langsamem Tempo. An dem erwähnten Tage dagegen lief ganz unvermutet einer dieser Züge fast mit der vollen Geschwindigkeit der freien Strecke in den Bahnhof ein und prallte in der nächsten Sekunde mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0800.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)