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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Mensch! Nicht wahr?“ Wieder rief sie den Forschungsreisenden zu Hilfe. „Mit seiner Tochter, der schönen Frau, die wir in Tanger gesehen haben – mit der sind Sie doch befreundet? Sie haben es ja selbst uns gesagt. Wenn Sie die vielleicht bitten, daß sie uns hilft… sie ist mit ihren beiden Reisebegleitern auch in Chamounix… wenn Sie ihr ein paar Zeilen schreiben…“

„Ich glaube nicht, daß das etwas nützen würde.“ Er mußte unwillkürlich lächeln. „Und Herzensgüte scheint mir gerade nicht ein hervorstechender Charakterzug bei Nicolai Augustus Rey zu sein. Aber wenn bei einer Sache Geld zu verdienen ist…“

„Viel Geld!“ rief die Kleine hochrot vor Aufregung und so laut, daß die Umsitzenden die Köpfe nach ihr wandten. „Millionen! Wir haben alles ausgerechnet! Es ist gar kein Fehlschlag möglich! Nur das Kapital zum Anfang brauchen wir! Das muß uns Herr Rey geben! Er muß! Er muß!“

„Hoffen wir!“ meinte der Afrikaner trocken. Es verstimmte ihn, daß er mitten in all dieses Verwandtentreiben hineingeraten war und schon wie zur Familie gehörig betrachtet und zu Rat und That herangezogen wurde. Seit Jahren gewohnt, allein zu stehen, allein zu handeln, begriff er dies den anderen offenbar so selbstverständliche Gefühl der Verwandtschaft nicht, dies Zusammenfließen einander vielleicht ganz fremder, innerlich grundverschiedener und nur zufällig angeheirateter und verschwägerter Menschen zu einer kleinen Herde, zu einem nach außen geschlossenen Bunde im übrigen Weltgetriebe.

Da mußte man sich doch wenigstens gleich sein, so viel empfangen, wie man gab! Aber was konnten ihm diese unbedeutenden Existenzen sein, die sich jetzt schon vertrauensvoll an ihn hängten? Was gingen sie ihn an? Er heiratete eine Frau, nicht eine ganze weitgegliederte Sippe, von der ein Hauch der Kleinlichkeit und Alltäglichkeit über sein ganzes Leben wehen mußte! Hing dieses Bleigewicht an ihr, dann konnte er nicht die Künstlerin in Klara zu sich, in seine freie Welt emporziehen und zu dem machen, was er wollte. Zu dicht herum lauerte das Philistertum in Gestalt von Onkeln und Tanten, Schwägerinnen und Schwägern.

Die Kleine hatte unbekümmert, daß er nicht mehr zuhörte, den andern leuchtenden Auges weiter die Vorzüge des Seebades Tanger gepriesen und es ihnen ausgemalt, wie schön es sein würde, wenn erst einmal die englischen Lords zu Dutzenden dort am Strande galoppierten und die amerikanischen Millionärinnen zu Hunderten nebenan in den Wellen plätscherten – jetzt brach sie plötzlich ab und starrte nach dem Eingang des Gartens.

Eine breitschulterige, blondbärtige Gestalt, unmodern, aber in auffallender Weise gekleidet, war dort erschienen und steuerte, ohne allzuviel Rücksicht auf die Nebenmenschen zu nehmen, quer durch die Gruppen, auf die drei Schwestern zu.

„Hurra!“ rief Albrecht Steffen schon von weitem, zwar, so gut er konnte, gedämpft, aber immer noch mit einem Bärenbaß, der ein flüsterndes Echo, ein leises „shocking“ und Achselzucken im Garten weckte. „Hurra!“ wiederholte er, die dargebotenen Hände schüttelnd. „Guten Tag, Hilda! Habe ich die Ehre, den berühmten Afrikareisenden …? Freut mich, Herr! Hab’ Sie schon neulich aus der Ferne in Tetuan gesehen und bringe Ihnen Grüße von Herrn Rey. Sie möchten doch bald einmal hinüberkommen! Er erwarte Sie! Seine Tochter auch und ihre Freunde! Hören Sie mal: das sind zwei tolle Knöpfe… Kennen Sie sie näher?“

„Nein,“ sagte der Afrikaner kurz. Es verdroß ihn, daß der Handlungsreisende ihm eben jetzt, mitten im Philisterium, die Erinnerung an jene freien kraftstrotzenden Wesen da drüben wachrief, wie sie gleichmütig auf den Höhen der Berge und der Menschheit wandelten. Plötzlich begriff er, wie einem Vogel im Käfig zu Mute ist, der den weiten Himmel schaut und in die blaue Unendlichkeit hinausmöchte, trotz aller Pflege, Sicherheit und Ruhe zwischen den Gitterstäben. Und wie ein Freundesgruß aus altewiger Zeit stieg plötzlich vor seinem Geiste ein lachendes Gesicht empor, mit wogenden Locken und geheimnisvoll leuchtenden blauen Augen, und ein übermütiges Lachen verhallte in seinem Ohr, ein Wiederklang ferner Tage, da er an Angelas Seite durch den ewigen Schnee und über die Riesenstufen der Pyramiden wie mit einem langvertrauten Freunde emporgestiegen.

Wer dich vergessen könnte, Frau Aventiure! Er wußte es wohl: er konnte es nie und nimmer. Die Erinnerung blieb. Und jetzt stärker denn je, wo sie ihm so nahe und doch für immer verloren war. Denn jetzt trennte sie die unüberbrückbare Kluft: sie wandelte in lachender Gesundheit, und er war zu Tode siech. Er wußte, welche Scheu sie vor kranken und unglücklichen Menschen hatte! Sie wich ihnen aus, wo sie nur konnte, und empfand als echte Tochter Nicolai Augustus Reys viel weniger Mitleid als Angst und Aerger, wenn sie dem Anblick menschlichen Leidens einmal doch nicht zu entrinnen vermochte.

Wo es ging, kaufte sie sich dann wohl mit einer reichen Spende von ihrem eigenen Gewissen frei. Wie sie den blinden Bettlern im Orient, den klagenden Krüppeln in Rußland, abgewandten Gesichtes und ihre Schritte beschleunigend, eine Hand voll Münzen hinwarf, so fand sie gewiß auch für den einstigen Freund einige äußerliche Zeichen der Teilnahme und des Trostes. Aber die begehrte er nicht. Fester denn je war er jetzt entschlossen, sie niemals wiederzusehen. Eine zornige Sehnsucht rang sich dabei doch in ihm empor, aber der Handlungsreisende ließ ihn, weiterplaudernd, nicht mehr zur Besinnung kommen.

„Ein famoser Mensch, dieser Rey!“ sagte er. „Zu solch’ einem Freund können Sie sich gratulieren! Ich weiß ja – Sie waren neulich erst bei ihm auf der ‚Liberty‘ in Gibraltar und haben mit ihm zu Abend gegessen. Na, das hab’ ich ja freilich nun nicht. Aus einem sehr einfachen Grund: er hat mich nicht eingeladen! Und das war mir eigentlich lieb. Denn unter solch’ pikfeinen Leuten, einem wirklichen Prinzen und gottweißwas für Millionären in Frack und weißer Binde – da fühle ich mich nun einmal durchaus nicht behaglich …“

„Kann ich mir denken,“ brummte der Major. „Ich kann solches Volk auch in den Tod nicht leiden!“ Und seine schwarzgekleidete Freundin nickte Beifall. „Ich bin ja als Gouvernante zuweilen diesen Kreisen nahegetreten,“ sagte sie streng. „Aber ich habe immer den Eindruck gehabt: es steckt nichts Rechtes dahinter. Eine glänzende Außenseite und innen Frivolität der Gesinnung, Gleichgültigkeit gegen alles Höhere und Edlere …“

„Ach, nun laßt doch mal diese Leute!“ Die Kleine starb fast vor Ungeduld. „Was liegt denn an denen? Wie es mit Herrn Rey ausgegangen ist, will ich wissen! Was hat er denn zu dem Seebad Tanger gesagt? Er muß doch begeistert gewesen sein!“

„Na, das gerade nicht!“ meinte der junge Kaufmann etwas gedämpfteren Tones als bisher. „Wie ich fünf Minuten gesprochen hab’, lächelt er mich plötzlich ganz spitzbübisch an, schiebt sich seine strohblonde Perücke zurecht, fährt sich mit der Hand um sein Kinn wie ein Prediger, dem nichts einfällt, und murmelt mit ganz heller Stimme vor sich hin: ‚Das ist Unsinn, lieber Herr… Unsinn … Unsinn … Unsinn …‘“

„O weh!“ rief Hilda und schloß schmerzlich die Augen. Die Gouvernante und der Major tauschten einen Blick trüben Einverständnisses. Es war doch wirklich unverantwortlich von dem Menschen, das Kind um seine Stellung zu bringen und dann mit leeren Händen des Wegs zu kommen.

Und dabei noch zu lächeln! Denn Albrecht Steffen war ganz guter Dinge. „Ja, also … Unsinn!“ fuhr er fort. „Sowie ich den Mund öffnen wollte, sagte der alte Herr ganz hell und bestimmt wie ein Papagei: ‚Unsinn!‘ Wie ich dann endlich ganz still bin, geht er durchs Zimmer und stößt ab und zu ein paar abgerissene Worte heraus: ‚Weltverkehr läßt sich nicht zwingen! … Unsicherheit der Zustände in Marokko … Widerstand der Behörden… verpestender Schmutz in der Stadt, den man nicht beseitigen kann … Ueberhaupt ein wildes, unabhängiges Land. Muß erst wieder annektiert werden wie im 17. Jahrhundert, bis sich das große Kapital hinwagt. Bis dahin: Unsinn!‘

Na, nun kannst du ja gehen! denke ich und will mich empfehlen. Da sieht er mich ganz eisig an und sagt halblaut: ‚Ich kann mich nicht erinnern, Sie schon entlassen zu haben!‘ Ich werde ärgerlich. ‚Bin ich denn in Ihren Diensten, Herr?‘ frage ich und er sagt: ‚Ja! Leute wie Sie kann ich brauchen! Keine Arbeitsmaschinen, sondern Menschen, denen zuweilen etwas einfällt. Wenn es diesmal auch ein Unsinn war, so kann es doch ein anderes Mal etwas Vernünftiges sein!‘ Und kurz und gut, ein Wort gab das andere, und ich bin fester Angestellter des Welthauses Nicolai A. Rey in Petersburg und Baku. Das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0807.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2022)