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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

anders als sie war es schließlich, die ihn da hinausschickte, sie, die in ihm nicht einen sich sorgsam pflegenden Kranken, sondern den unverzagten Mann von einst sehen wollte!

Gut. Sie sollte ihn haben. Oder nichts!


20.

Auf dem weißen Haupt des Bergkönigs lag noch, eine rotglühende Krone, das letzte Sonnenlicht, indessen Europa da unten mit seinen Thälern und Höhen, seinen Städten und Ländern längst in der Nacht verschwamm. Ueber den Abendwolken, die weißdampfend seine Gletscher umzogen, blinkte der schmale Eiskamm wie ein Feuerstreifen vom Himmel, und als sei der ewige Firn da oben in Brand geraten, wehten hochaufschlagend weiße Rauchwirbel von dem stundenweit hingestreckten Grat. Das war der Firnstaub, mit dem der Südsturm spielte. Mit eisigem Hauch fegte er die losen Krystallkörner aus ihrem kalten Bett, er ließ sie als einen im Widerschein der Sonne blutrot flimmernden Dunst über die gefrorenen, glatt spiegelnden Grate und Schneiden hintanzen und stäubte sie über die jähen Schneehalden hinab zu Thal.

Wo diese knisternden und wie Nadelstiche prickelnden Eisschleier im Abendleuchten hinwehten, da verwischten sie die Spuren der Zwerge, die am Morgen dem Gebieter der Hochwelt ihren Fuß auf den Nacken gesetzt, mit scharfer Waffe Fugen in sein Frostkleid gehauen und triumphierend ihre Stahlspitzen in den weißen, zertrampelten Firn seines höchsten Gipfels eingepflanzt hatten. Ein übler Knasterdunst ging vor den Eindringlingen her durch die reine Luft, ihr schweres, beklommenes Atmen störte die Stille der Einsamkeit, und mehr noch entweihte, wenn sie keuchend das Ziel erreicht, ihr lärmendes Gelächter, ihr aufgeregter Wortwechsel das heilige Schweigen der Höhen.

Ihrer gab es so viele. Sie kamen immer wieder und in immer stärkerer Zahl. Sie hatten die Angst vor den einst abergläubisch gefürchteten Bergungeheuern verloren, sie kannten auswendig deren grobe Tücken und Gefahren, wie der Stierkämpfer in der Arena die Künste seines ungeschlachten Gegners, und lachten nur noch mitleidig darüber, wenn sie hoch über den Wolken im ewigen Schnee spazieren gingen wie auf blumigen Matten.

Und fuhren sie endlich, sogar die Steilheit der Hänge für ihr Vergnügen ausnutzend, in sausender Fahrt auf den Pickel gestemmt wieder zu Thal, so blieben doch, da und dort in dem endlosen Firn verloren, ihre Zwingburgen zurück, winzige, häßliche Schutzhütten, die, wie Schmutzflecken aus der weißen Fläche wachsend, aller Wut der Elemente trotzten.

Und das höchste dieser Bollwerke stand höher als die Berge selbst, stand, sie alle überragend, auf der Spitze des Montblanc. Ein Sklavenmal, thronte, in seinem Firn verankert, das Observatorium Janssen auf seinem weißen Haupt, um das bis vor hundert Jahren nichts anderes gegangen war als Sturm und Sonnenschein, Flockentreiben und Wolkenflug der Jahrtausende. Jetzt mochte die Windsbraut lange da draußen heulen und rasend an der verschlossenen Thür rütteln, die Schneeschwaden mochten monatelang im Winterdämmern es mit grauen Armen umfangen und die Sonne darauf niederglühen – die düstere kleine Festung stand reglos in ihren eisigen Grundmauern, und innen arbeiteten lautlos, den meilenweit entfernten Zwergen im Thal da unten gehorsam, die Apparate, regten sich die Quecksilbersäulen und harrte umsonst die Nährbouillon in der dünnen, schon dem Nichts des Weltenraums sich nähernden Luft auf die Bacillen, die sie bevölkern sollten. Da war keine Hoffnung auf Befreiung mehr. In ratlosem Grimm wirbelte der Geistertanz der aufgewehten Eisschleier, rot durchschimmert vom scheidenden Tage, um den plumpen Kasten mit dem Aussichtsrondell darauf und dem kleinen vergletscherten Ställchen zur Seite. Die Eiskrystalle prallten schwächlich wie Hagelstaub davon ab.

Der Montblanc brüllte auf. Von seinen weißen Flanken rieselte es in dünnen Strähnen, wie ein stäubender Wasserfall, knatternd und krachend herab, und weithin hallte das Echo der Lawinen, deren Bahnen an diesem sonnenheißen Augusttag überall als schnurgerade abwärts führende und unten von losen Zchneehaufen abgeschlossene Rillen die jähen Berghänge durchzogen. Jetzt war ihre Zeit.

Rings in der Runde schüttelten die Riesen die Flocken aus ihrem Schneemantel: aus der Ferne, vom Thal aus gesehen, kleine, rasch versiegende Bächlein, für den, der sie aus nächster Nähe im letzten Augenblick seines Lebens schaut, eine ungefüg niederdonnernde, alles mit sich fortreißende weiße Sündflut.

Lärm überall in den Schründen und Klüften, den Schneekratern und Gletscherkesseln. Innen, in der vielgezackten Teufelswelt der Monts-Maudits polterte und dröhnte es unaufhörlich, ohne daß das Auge eine Bewegung an den starren Eisleibern erkennen konnte; es knisterte bösartig drüben in den Séracs du Géant; von dem fürchterlichen Kirchturm der Aiguille du Dru klirrten sonnenzernagte, abenteuerliche Eisklumpen herab und zerschellten in jähem Sturze zu Hunderten von elastisch weiterhüpfenden Blöcken, selbst der sanfte Nachbar des Montblanc, der mächtige Dome du Gouter ward rege und schleuderte – wie einen ärgerlichen Fluch, daß die Bescherung für die verhaßten kleinen schwarzen Insekten zu spät kam – aus seinem Ueberfluß eine Wand voll Schnee hinab auf das „kleine Plateau“ und die dort zerstreuten leeren Weinflaschen und Papierfetzen.

Die Berge atmeten schwer. In regelmäßigen Zwischenräumen stöhnte der Sturm dahin. Dann erhob sich der Firnstaub auf den Kämmen zu neuem Tanz und unten, in den eisigen Rissen und Schluchten entstand ein seltsames Lachen und Raunen. Es war, als erzählten sich die Eisriesen vor dem Schlafengehen noch allerhand Geschichten, unwahrscheinliche, ungeheuerliche Geschichten aus der Urzeit, da es noch keine Menschen gab – als wiegten sich die zum Himmel aufschießenden, weiblich schlanken Eisnadeln belustigt hin und her, während die breitgewölbten, massigen Dome zu ihren Füßen prusteten und sich im Lawinendonner vor Vergnügen schüttelten über das ungeschlachte Zeug, das da drüben die „Riesenschründe“ mit den „Verfluchten Bergen“ tuschelten und raunten.

Sonnenuntergang auf der Höhe des Montblanc! –

Ein einsamer Wanderer drängte sich, ohne rechts und links zu sehen, durch das bunte Gewühl, das jetzt um die siebente Abendstunde, wo von der letzten Eisenbahnstation her die Diligencen ankamen, die Gassen von Chamounix erfüllte. Er war in einem eigenen Fuhrwerk vorausgefahren. Allein zu sein, das war sein einziger Wunsch. Der trieb ihn so rasch wie möglich durch die Menschengruppen dem Ausgang des Dorfes zu, und vielleicht mehr noch die unbestimmte Befürchtung, doch irgendwo plötzlich das wohlbekannte Silberlachen zu hören und vor Angela zu stehen.

Aber es war nicht leicht, vorwärts zu kommen. Besonders vor dem Postgebäude stockte der Verkehr. Dort hielten die Diligencen, schwerfällige, mit fünf und sechs Pferden bespannte und bis auf den letzten Platz mit Passagieren und Koffern vollgepackte Kolosse. Aus ihnen quoll, von dem Geschrei der in langer Reihe aufgestellten Hoteldiener empfangen, ein wildes Durcheinander aller Stände und Sprachen. Vom Kutschbock, wo die Rosselenker in blauen Blusen saßen, kletterten deutsche Touristen mit dem grünen Rucksack auf dem Rücken und französische Thalwanderer in seltsamen, kurzen Kapuzenmäntelchen nieder, auf den gegen die Plattform oben gelehnten Leitern tasteten sich gichtbrüchige englische Reverends und behende Amerikanerinnen, den Bergstock in der Hand und das Schoßhündchen unter dem Arm, auf den Boden herab, und aus den engen, heißen Innenplätzen unten löste sich ein Knäuel von fetten, alten Damen, von Priestern, Kindern und Kammerzofen aus dem Chaos des dazwischen aufgeschichteten Handgepäcks los. Elegante Pariser, noch elegantere, nervös plaudernde Pariserinnen, junge Abbés zu ihrer Linken, die mit ihren glattlächelnden und weltklugen Gesichtern eher an liebenswürdige Schauspieler in schwarzen Weiberröcken erinnerten und nicht einen Blick für ihre derben Berufsgenossen, die dicht daneben mit Fuhrleuten und Arbeitern Gruß und Handschlag austauschenden savoyardischen Dorfpfarrer, übrig hatten: Engländer in Menge, mit weiten Kniehosen und modischen Jacketts darüber als einem Kompromiß zwischen Klubhütte und Salon, lärmende Italiener, Holländer und Russen, Schweden und Ungarn, Yankees und citronenfarbene,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0816.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2019)