Seite:Die Gartenlaube (1898) 0827.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

daß an das drüben ein seidener Schirm angelehnt war. Der Professor mußte ihn vergessen haben. Was sollte ich thun? Ihn da stehen lassen? Aber es war sehr unwahrscheinlich, daß er sogleich vermißt und abgeholt würde. Ich hielt es doch für menschenfreundlich, ihn beim Inspektor abzugeben.

Ich hatte so auch Gelegenheit, zu erfahren, was da im Werk sei. Er fing selbst davon an, indem er lachend sagte, es sei mit so einem Gelehrten schwer zu verhandeln; in der nächsten Minute habe er alle Maße und Zahlen schon wieder vergessen oder durcheinandergemengt. Er wisse auch selbst nicht recht, was er wolle, ein Erbbegräbnis, oder ein einfaches Gitter, oder eine Steineinfassung, oder auch die nicht einmal. Seine Fragen ließen sich gar nicht alle beantworten. „Er wird doch nicht das Grab ausmauern lassen!“ rief ich entsetzt, indem ich an die unausbleiblich lange Beunruhigung unseres Besitzes dachte. Es war kein Trost, daß der Inspektor versicherte, die Arbeiten könnten wohl erst im Frühjahr vorgenommen werden, wenn auch unser Rasen der Nachbesserung bedürftig sein würde. Er setzte hinzu: „Für wen hätte der Herr Professor eigentlich Grund, so weit in die Zukunft zu sorgen? Er war das einzige Kind und ist unverheiratet. Wer weiß, wohin er in kurzem berufen wird und wo er sich dermaleinst zur letzten Ruhe legt? Er hat auch nur so ganz im allgemeinen die Vorstellung, daß er seiner Mutter etwas zum Gedächtnis stiften müßte. Ein Gedenkstein wird’s wohl schließlich auch thun.“

Aber es wäre doch möglich –! Und dann die freie Aussicht durch ein hohes Gitter verstellt… Ich berichtete zu Hause mit Thränen in den Augen.


Der Oktober bringt noch schöne Tage, wenn auch kühle.

Heute traf ich den Professor, der drei kleine Bündel Veilchen niedergelegt hatte. Er zog mit auffallender Eile den Hut, indem er sich wiederholt verbeugte. Die neulich durch den Inspektor veranlaßte Begrüßung mochte mich in seinen Augen auf sicheren Boden gestellt, ihn aber auch der Pflicht einer Vorstellung überhoben haben. Wenigstens redete er mich sofort an.

„Es scheint, mein Fräulein,“ sagte er leise, „daß Sie zu Ihren Besuchen hier mit Vorliebe diese Stunde wählen.“

Das bestätigte ich. Es war mir lieb, ihm darüber Gewißheit geben zu können. Vielleicht wünschte auch er eine Art von Auseinandersetzung bezüglich der Zeit.

„Sehr merkwürdig!“ fuhr er fort. „Diese Stunde ist auch mir die liebste. Ich lese nachmittags mein Kolleg und gehe dann zur Erholung gern ein wenig spazieren. Jetzt habe ich nun gewissermaßen ein festes Ziel. Der Vormittag gehört, wenn nicht etwas Besonderes dazwischen kommt, der häuslichen Arbeit.“

Da wußte ich denn Bescheid. Es könne wohl nicht von mir erwartet werden, meinte ich so wenig spitz, als nach dieser Ueberraschung mir möglich war, daß ich deshalb meine Gewohnheit ändere.

Er sah mich mit seinen großen – übrigens, wie ich bemerkte, lichtbraunen – Augen sehr verwundert an. „Ich wüßte nicht, daß ich mir anzudeuten erlaubt hätte …“ stotterte er. „Wir haben ja wohl hier beide Raum. Aber wenn meine öftere Gegenwart Ihnen lästig sein sollte, mein Fräulein –“

Das konnte ich nun doch nicht zugeben, ohne unartig zu erscheinen. Wir hätten beide hier das gleiche Recht, erwiderte ich, und wir brauchten einander ja nicht zu stören.

Wenn damit zu verstehen gegeben sein sollte, daß die Unterredung beendet sein könnte, so verstand er mich jedenfalls nicht.

„Ich kann meine Vorlesung in diesem Semester auch nicht mehr gut verlegen,“ fuhr er fort, „und zu welcher andern Zeit ich meinen Spaziergang machen sollte ...“

Da ich darauf nicht weiter einging, wurde er sichtlich verlegen und zupfte an den Schößlingen seines Kinnbarts. Er wußte offenbar nicht, wie er zum Schluß kommen sollte, nachdem er einmal die Ansprache gewagt hatte. Das Schweigen wurde mir peinlich. Ich stellte die sehr überflüssige Frage, ob er Universitätslehrer sei. „Ja,“ antwortete er, „klassischer Philologe.“ Es fiel ihm auch jetzt nicht ein, sich mir zu nennen, so nahe das gelegen hätte. Seine Blicke irrten um mich herum. „Uebrigens weiß ich bestimmt,“ setzte er wieder an, „daß ich mir vorgenommen hatte, Ihnen bei nächster Begegnung noch etwas zu sagen, mein Fräulein. Es fällt mir nur durchaus nicht ein …“

Ich lächelte. „Wohl wegen des Schirms –“

„Ja, ja – wegen des Schirms!“ rief er sehr erfreut. „Es ist sehr gütig, daß Sie mir’s in Erinnerung bringen. Ich wollte Ihnen meinen besten Dank sagen für die liebenswürdige Bemühung …“

Es sei ja nicht der Rede wert, versicherte ich.

„O doch, doch!“ widersprach er eifrig. „Als ich nach Hause kam, fragte die alte Kathrine gleich, wo ich den Schirm gelassen hätte, und war sehr ungehalten, als ich’s nicht sagen konnte. Freilich war’s nicht mein – es war nämlich meiner verstorbenen Mutter Schirm, und der Verlust wäre mir schmerzlich gewesen.“

Ich konnte mich nun gleich vergewissern, ob er wirklich die Absicht habe, ein Erbbegräbnis zu erwerben, und that es auch.

„Ach, es war mir nur so durch den Sinn gegangen,“ antwortete er, „weil ein Kollege mir riet, vorsichtig zu sein. Nach dreißig Jahren hätte man manchmal Schwierigkeiten wegen Behauptung des Platzes. Aber die Umstände sind so groß! Und eigentlich gefällt mir so ein freier Grabhügel viel besser. Der Ihrige sieht schon recht hübsch aus; es ist wohl das Klügste, wenn ich mich ganz nach Ihnen richte, mein Fräulein.“

Ich schlug ihm vor, dem Gärtner sogleich Auftrag zu geben, und zeigte ihm denselben, da er gerade in der Nähe arbeitete. Er begab sich auf der Stelle zu ihm, und so konnte ich indessen leicht verschwinden.


Wir grüßen einander nun regelmäßig, wenn wir an den Gräbern zusammentreffen.

Das geschieht nicht gerade alle Tage, aber sehr oft. Mitunter bin ich schon fortgegangen, wenn er kommt. Einmal hatte ich die Mutter lieber vormittags in die wärmere Sonne geführt. (Sie war für sie doch noch nicht warm genug gewesen.) Ein andermal hatte er gleich nach seiner Vorlesung zu einer Fakultätssitzung gehen und deshalb den Friedhofsbesuch versäumen müssen – zu seinem großen Kummer, wie er bemerkte. Es war überhaupt wunderlich anzuhören, mit welchem Eifer er sein Ausbleiben entschuldigte, als hätte ich irgend welchen Anspruch auf sein pünktliches Erscheinen oder vermißte etwas, wenn ich ihn nicht sähe und hörte.

Ehrlich, ehrlich! So ganz gleichgültig ist mir’s in der That nicht, ob ich die lange Gestalt da zwischen den Gräbern stehen sehe. Man gewöhnt sich in das erst Unbequeme doch recht rasch hinein und sucht ihm sogar die gute Seite abzugewinnen.

Ihm geht’s übrigens ähnlich, und er spricht sich darüber mit der Unbefangenheit eines Kindes, das sich bei so etwas gar nichts denkt, sehr offen aus. „Ich empfinde es schon als einen besonderen Glücksfall,“ bemerkte er, „daß diese beiden Gräber zusammenliegen und wir beide so gleichsam gut nachbarlich verkehren können. Diese wenigen Quadratmeter Bodenfläche sind mein einziger Besitz von der Erde, und ich glaube zu erraten, daß Sie über keinen größeren Grundbesitz verfügen, mein Fräulein. Da hat es doch Bedeutung, daß wir angrenzen. Ich kann mir auch nicht mehr gut vorstellen, daß es mir lieb wäre, hier mit mir ganz allein zu sein. Im Gegenteil: ich empfinde es als eine rechte Wohlthat, hier jemand zu treffen, der in derselben Absicht herkommt, eine Pflicht der kindlichen Pietät zu erfüllen, der von denselben Gefühlen herzlicher Trauer bewegt ist, und der freundlich mit mir spricht. Bisher war meine alte Mutter eigentlich der einzige Mensch, mit dem ich mich freundschaftlich aussprechen konnte. Stellen Sie sich vor, wie verzweifelt ich war, ihren Mund nun auf ewig verstummt zu wissen. Und da finde ich ganz in ihrer nächsten Nähe – und gewissermaßen mir durch sie zugeführt – eine Art von Ersatz. Es ist ja allerdings ein Unterschied zwischen einer alten Frau, zu der man von Jugend auf gestellt war, und einer jungen Dame, die man nur eben kennenlernt. Aber Sie glauben nicht, wieviel innere Aehnlichkeit … Und ich habe auch so das Gefühl, daß ich von Ihnen verstanden werde und wir einander eigentlich gar nicht fremd sind. Es ist eine wunderliche Sache, und ich bin dem Geschick dankbar dafür.“

Ja, es ist eine wunderliche Sache. Der Professor – ich weiß noch immer nicht einmal, wie er heißt – hat mir schnell ein gewisses Vertrauen abgewonnen. Er sieht übrigens recht gut aus, wenn man ihn in der Nähe zu betrachten Gelegenheit hat, jedenfalls recht interessant. Es ist, als ob sich der Geist das Gesicht formte, in dem er sich nun ausspricht, und die leuchtenden Augen verleihen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0827.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)