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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

ihm ein ganz besonderes Leben. Ich schätze ihn noch nicht vierzig Jahre alt, aber nahe daran. Möchte er sich nur einmal das Haar verschneiden lassen, das sich jetzt hinten etwas unordentlich über das seidene Halstuch bäumt, und den gar zu dünn auslaufenden Bart stutzen. Früher hat wahrscheinlich seine Mutter auf ihn geachtet, vielleicht selbst zu rechter Zeit die Schere gehandhabt. Warum nicht? Den alten Papa, der nicht zum Friseur zu bringen war, habe ich in solcher Weise stets, so oft es nötig wurde, „hübsch gemacht“. Das war sein Ausdruck dafür. Deshalb fällt mir nun wohl dieser Auswuchs überhaupt in die Augen.


Heute sagte er: „Ich hätte mir früher nicht als möglich gedacht, daß ich einmal das Bedürfnis empfinden würde, meiner Mutter Grab so häufig zu besuchen. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, mein verehrtes Fräulein; mir aber ist das, was wir von unseren Toten dem Grab übergeben, wenig geeignet, die Erinnerung an die Betrauerten recht zu erwecken oder auch nur zu sammeln. Mit dem, was in dieser lebt, lebe ich in ununterbrochener Gemeinschaft. Und nun übt dieses Fleckchen Erde doch eine unvermutet starke Anziehungskraft aus. Ich pilgere dahin wie zu einem geweihten Ort und befinde mich in der andächtigen Stimmung wohl, die er hervorruft. Ich fühle mich da nicht mehr so allein …“

Er brach ab, senkte den Blick und sah eine Weile träumend vor sich hin. Ich glaube, was er weiter auf der Zunge hatte, paßte nicht mehr ganz in den Gedankengang, dem er bis dahin gefolgt war. Ich meinte ihn darauf zurückführen zu können, indem ich als meine eigene Empfindung aussprach, daß man sich am Grabe eines geliebten Menschen seines Verlustes lebhafter bewußt werde und diesen erneuerten Schmerz als eine Wohlthat fühle. Als ob man damit dem Toten etwas Liebes erweise – das einzige Liebe, das man ihm noch erweisen könne. Und so löse sich nun wieder der Schmerz, und man gehe getröstet fort, dem Geschiedenen doch noch etwas zu sein. Wie man ja auch wohl dem Bilde eines entfernten Lieben allerhand Zärtlichkeiten zuwende.

Er nickte wie zustimmend, aber auf seinem Gesicht lag dabei ein so eigenes Lächeln, daß ich ihn kaum ganz bei der Sache glauben konnte. „Der Mensch ist ein sehr wunderliches Geschöpf,“ sagte er aufblickend, „inkonsequent durch und durch. Alle Philosophie bringt ihm der besondere Fall in Verwirrung. Ich bin überzeugt, daß das Fortleben der Seelen nach dem Tod, wie es auch stattfinden mag, jedenfalls keine Gemeinschaft hat mit unserer Leiblichkeit. Giebt es ein geistiges Etwas, das von uns bleibt, so nimmt es doch sicher nicht mit leiblichen Sinnen wahr und kann mit leiblichen Sinnen nicht wahrgenommen werden. Diese felsenfeste Ueberzeugung hindert doch meine Phantasie nicht, mir einen ganz unkontrollierbaren Streich zu spielen. Ich will Ihnen ein – nun ja, ein recht lächerliches Geständnis meiner Schwäche ablegen. Neben meiner Arbeitsstube liegt unser kleiner Salon. Dort befindet sich ein Bild meiner Mutter, ein recht gutes und treues Bild. Die Thür steht gewöhnlich offen, da ich gern bei der Kopfarbeit durch beide Zimmer auf und ab gehe, und ich bleibe oft vor dem Bilde stehen, einen Blick darauf zu werfen und ihm leise ein freundliches Wort zuzurufen. Und nun denken Sie – wenn ich abends und nachts bei der Lampe an meinem Schreibtisch sitze, kann ich die offene Thür nicht sehen, ohne mir die Möglichkeit einzubilden, meine Mutter könnte durch dieselbe, für meine Augen geradeso wie auf dem Bilde sichtbar, eintreten. Und diese Einbildung hat solche Macht über mich, daß ich schon wiederholt die Thür geschlossen habe. Nicht wahr, eine größere Konfusion ist schon nicht denkbar?“

Das könnte ich doch nicht so ohne weiteres zugeben, antwortete ich. Die offene Thür mit dem dunklen Raum dahinter erwecke gerade die Vorstellung, daß sich von dem nicht sichtbaren Bilde die Erscheinung loslöse und ins Helle trete. Ich riet ihm, das Bild in sein Studierzimmer zu nehmen, dann werde es ihm immer ein Bild bleiben.

„Daß ich nicht selbst schon auf dieses allereinfachste Heilmittel verfallen bin!“ rief er. „Aber ich danke es Ihnen gern. Und ich sehe nun auch, daß ich es nicht bereuen darf, Ihnen meine Schwäche so offen eingestanden zu haben.“

„Sie haben gewiß Ihre Mutter sehr lieb gehabt,“ bemerkte ich.

„Ach, sehr lieb, sehr lieb,“ antwortete er mit innigem Ausdruck. „Ich kann mir nicht denken, daß ich je einen anderen Menschen …“ er stockte und blickte mich wie erschreckt an. „Das heißt … Ja, der Mensch ist ein wunderliches Geschöpf,“ murmelte er, sich wohl an die Einleitung seiner sonderbaren Mitteilung erinnernd. Er reichte mir die Hand und entfernte sich rasch.


Merkwürdig! Als ich gestern die Mutter zu Bett gebracht hatte und spät bei der Lampe in mein Tagebuch schrieb, was ich erlebt hatte, fiel mir plötzlich ein, daß im Zimmer nebenan das Bild des Vaters hänge, das ich bekränzt hatte. Ein eigentümlich gruseliges Gefühl quälte mich, bis ich aufgestanden war und – die Thür geschlossen hatte.

Wenn ich das dem Professor erzählen würde!! –

Heute war der Nachmittag so still und sonnig – die Mutter begleitete mich einmal wieder. Es war etwas früher als zu meiner gewohnten Zeit, der Professor daher noch nicht anwesend. Er kam aber, als wir uns eben entfernen wollten. Unter dem Arm trug er einen in Papier eingewickelten Gegenstand, der ein großes, aber nicht dickes Buch sein konnte.

„Ach –!“ rief er, als er meine Mutter bemerkte, „ich habe gewiß die Ehre, die Frau Geheime Rätin … hm, hm!“

Er kam natürlich nicht weiter, und ich nannte nun vorstellend unsern Namen. „Liebe Mutter, Herr Professor … hm, hm!“

Auch ich stockte und recht absichtlich, indem ich ihn zugleich fragend ansah. Er begriff, wenn auch nicht gleich in der ersten Sekunde, und ergänzte: „Professor Max Becker.“

„So erfahre ich bei dieser Gelegenheit doch auch Ihren Namen,“ konnte ich mich nicht enthalten, anzumerken.

Er schien sehr überrascht. „Hätte ich wirklich vergessen ...?“ stotterte er. „Dann kann nur die Bescheidenheit daran schuld sein, mein Fräulein. Wahrscheinlich glaubte ich, daß es Ihnen ganz gleichgültig wäre –“

„Lina hat mir erzählt,“ nahm meine Mutter nun das Wort, „daß sie Ihnen hier infolge der Nachbarschaft der Gräber öfters begegne.“

Er hatte, gleich als sie mit Nennung meines Namens begann, den Kopf aufgerichtet und die Augenbrauen hochgezogen. „Jawohl,“ bestätigte er, „Fräulein Lina war so gütig, mir zu gestatten, zu dieser mir besonders passenden Zeit – oder vielmehr sich durch mich nicht abhalten zu lassen, zu der ihr besonders passenden Zeit … Ich hatte jedenfalls wiederholt das Vergnügen, hier nicht allein sein zu dürfen.“

„Es hat mich sehr für Sie eingenommen,“ bemerkte die Mama, „daß Sie das Grab Ihrer Mutter so oft besuchen. Es ist mir ein Zeichen, daß Sie ihr gewiß ein guter Sohn waren.“

„Ach, wenn Sie die liebe Frau gekannt hätten –!“ rief er mit leuchtenden Augen. Zugleich zupfte er an dem Päckchen unter seinem Arm, indem er es vor- und wieder zurückschob und endlich nochmals vor. „Es war meine Absicht,“ sagte er dabei verlegen zögernd, „Fräulein Lina ihr Bild … Aber dazu ist nun wohl heute nicht die rechte Zeit und Gelegenheit –“

Ich sprach, wirklich angenehm berührt, meine Freude darüber aus, daß er das Bild, von dem die Rede gewesen, mitgebracht hätte. Da auch die Mama bat, sich durch ihre Gegenwart nicht behindern zu lassen, wickelte er die umrahmte Photographie aus dem Papier und hielt sie uns hin.

Ich blickte lange darauf. Vielleicht noch nie hatte mich das Bild eines fremden Menschen auf der Stelle so bekannt angemutet. Es wirkte wohl die offenbare Aehnlichkeit mit dem Professor mit – dasselbe schmale, scharfausgesprochene, geistige Gesicht, nur ins Weibliche übersetzt –, aber etwas wundersam Sinnendes in den Augen und ein bei aller Energie des Gesamtausdruckes unverkennbarer Zug von Milde und Güte um den sehr lieblichen Mund hätten mich in jedem Falle gefesselt. Ich fühlte, daß mir die Augen feucht wurden. Hier am Grabe … „O, das ist sie –!“ sprach ich unwillkürlich vor mich hin, und ehe ich meine Erregtheit meistern konnte, fiel eine Thräne auf das Glas.

Ich wollte sie abwischen, aber er griff eilig nach dem Bilde und betrachtete es mit freudig wehmütigen Blicken. „Ich danke

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0828.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)