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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Ihnen,“ sagte er, „ich danke Ihnen, Fräulein Lina. Das behalte ich zum Andenken. Wenn sie Ihnen im Leben begegnet wäre – Sie hätten sie gewiß liebgewonnen. Wie herzensgut und klug sie war! Sie beide wären – trotz des Altersunterschiedes – Freundinnen geworden.“

Ich weiß nicht, wie mir geschehen war. Ich konnte mich einer ganz eigenen Rührung nicht erwehren, wendete mich ab und schritt langsam durch die Reihen der Gräber bis zum Hauptwege, ohne umzuschauen, meiner Mutter voraus.

Als mich die Mutter einholte, sagte sie: „Der Herr Professor läßt sich dir bestens empfehlen.“ Hatte er sich wirklich so ausgedrückt? Ich forschte nicht danach.


Ich ging so spät, daß ich erwarten konnte, den Professor nicht mehr anzutreffen. Aber er stand zwischen den beiden Gräbern und spähte unverwandt nach mir aus. Ich bildete mir’s wenigstens ein.

„Sie müssen mir von Ihrer Mutter erzählen,“ sagte ich, nachdem wir einander zur Begrüßung die Hand gedrückt hatten.

„Wie gern!“ antwortete er. „Darf ich sogleich –?“

Ich meinte, die Zeit wäre wohl schon zu weit vorgeschritten, ich hätte bald wieder gehen wollen. „Aber die Sonne ist noch nicht unter,“ wendete er ein, „und wir haben heute eine so warme, weiche Luft – ganz sommerlich. Morgen will der Gärtner bei mir den Rasen legen.

Meine Mutter war eine ganz ungewöhnliche Frau,“ begann er nach einer kleinen Weile, im Auf- und Niederschreiten. „Es wußte das niemand so gut als ich – sie hat eigentlich, so weit meine Erinnerung zurückreicht, nur für mich gelebt. Diese Beschränkung ihrer gesamten Lebensthätigkeit auf einen einzigen Menschen, der ihr verwandtschaftlich so nahe stand, könnte mein Urteil befangen erscheinen lassen, aber die näheren Umstände, unter denen sie sich diesem einen widmete, und die Art der Bethätigung rechtfertigen es doch vollkommen.

Sie müssen wissen, Fräulein Lina, daß sie die Tochter eines reichen Mannes, eines Kaufmanns, und im größten Wohlstand aufgewachsen war. Sie hatte die Erziehung und Ausbildung einer jungen Dame erhalten, die bestimmt ist, einmal selbst einem großen Hauswesen vorzustehen. Sie schlug aber alle Anträge reicher Bewerber aus und heiratete – sehr gegen den Wunsch ihres Vaters – einen ganz armen Artillerielieutenant. Er soll ein ausgezeichneter Mathematiker gewesen sein und auch in seinem militärischen Fach zu den besten Hoffnungen berechtigt haben. Leider fiel er, als ich erst drei Jahre alt war, beim Sturm auf die Düppeler Schanzen.

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Der Brief ans Christkind.
Nach einer Originalzeichnung von A. Brunner

So schmerzlich ihr dieser Verlust war, sie durfte sich wenigstens jeder äußeren Sorge überhoben erachten. Kaum aber hatte sie sich notdürftig erholt, als ein neuer ganz unerwarteter Schlag sie traf. Ihr Vater hatte sich auf unglückliche Spekulationen eingelassen und machte, da er aus falschem Schamgefühl mit der Entdeckung zu lange zögerte, schmählichen Bankerott. Er glaubte seine kaufmännische Ehre für immer verloren und schoß sich eine Kugel durch den Kopf. Nicht nur hörte damit jede Unterstützung von Hause auf, meine Mutter gab auch ohne selbstsüchtiges Bedenken den Gläubigern die Kaution heraus, die bei Eingehung ihrer Ehe mit einem Offizier formgerecht gestellt war. Sie behielt neben einer kleinen Witwenpension nur das nicht bedeutende Vermögen, das sie von ihrer früh verstorbenen Mutter geerbt hatte und von dem ein beträchtlicher Teil überdies mit in den Konkurs fiel.

Sie hätte bei ihren zahlreichen Jugendfreundinnen, die fast sämtlich glänzend verheiratet waren, einen Anhalt gewinnen, unter Hinweis auf den Heldentod ihres Mannes die Verwendung hochgestellter Personen erbitten können, aber ein Gefühl stolzen Selbstvertrauens hielt sie ab, sich materieller Vorteile wegen in Abhängigkeit zu bringen. Sie verkaufte ihre kostbare Ausstattung und richtete sich ganz kleinbürgerlich ein; sie begnügte sich mit einer Aufwärterin und arbeitete sogar für Läden, ohne auch nur ein Geheimnis daraus zu machen. Es mit einem Wort zu sagen: sie lebte fortan nur noch für ihren Sohn, den sie abgöttisch und doch wieder sehr vernünftig liebte. Er sollte die beste Erziehung erhalten und seine Anlagen ganz nach Wunsch ausbilden dürfen. Sie wollte ihm, soweit das irgend möglich, den Vater zu ersetzen suchen und eine Lebensstellung sichern, in der ihn der Verlust des großväterlichen Vermögens nicht schwer zu bekümmern brauchte. Und das hat sie erreicht. Aber mit welchen Mühen und Sorgen!

Sie leitete meinen ersten Unterricht selbst. Dann brachte sie mich in die Vorklasse eines Gymnasiums. Sie arbeitete immer mit mir zusammen weiter, auch später, als ich Latein, Griechisch und Mathematik zu treiben anfing. Ich muß richtiger sagen: sie arbeitete mir immer voraus, um mir den Hilfslehrer entbehrlich zu machen. Auch als ich in den Schulwissenschaften schon so weit gefestigt war, mir selbst weiterhelfen zu können, nahm sie an allen meinen Beschäftigungen teil wie ein guter Kamerad. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich Student wurde. Dabei besorgte sie ihre kleine Wirtschaft mit peinlichster Ordnung und wußte sich so einzurichten, daß ich nie das Gefühl irgend welchen Mangels hatte oder auch nur meinte, im Vergleich mit Wohlhabenden etwas entbehren zu müssen. Meine Jugend war durchaus heiter.

Sie hielt sich durch ihre unbedeutende Pension selbst für alle Fälle genügend gesichert und verbrauchte für mich nach und nach ihr kleines Vermögen, indem sie so gut rechnete, daß es bei gehöriger Sparsamkeit auch für meine Universitätszeit und ein wenig darüber hinaus zureichen müßte. Ich würde vielleicht nicht studiert, sondern trotz meiner starken Neigung zur Philologie zu ihrer schnelleren Erleichterung ein praktisches Fach ergriffen haben, aber bei allem sonstigen fast freundschaftlichen Verhalten weihte sie mich in diese Verhältnisse nicht ein, um mir in der Wahl des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0829.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2023)