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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Lebensberufes die volle Freiheit zu lassen. Und ich war gar nicht bescheiden in meinen Ansprüchen. Ich wollte nicht Schulmeister, sondern Universitätsprofessor werden und mußte daher wünschen, Lehrer zu haben, die als Leuchten ihrer Wissenschaft galten. Dazu war ein häufiger Wechsel der Universität erforderlich. Meine gute Mutter sah leicht ein, daß ihre Mittel nicht ausreichen könnten, wenn wir eine getrennte Wirtschaft führten, und so entschloß sie sich, mich überall hin zu begleiten und selbst wie ein Student zu leben. Das ist ganz buchstäblich zu nehmen. Wir mieteten eine möblierte Stube, zu der ein Kämmerchen gehören mußte, in dem sie schlief. Wir aßen in billigen Speisehäusern, in denen Studenten zu verkehren pflegten. Wiederholt kam es auch vor, daß sie von meinen Bekannten, die sie auf diese Weise kennenlernte, gebeten wurde, ein ganzes Haus zu mieten und sie darin in Pension zu nehmen.

So verbrachte ich harmlos nicht weniger als zehn Semester in eifrigen Studien und meinte, noch immer nicht meinem wißbegierigen Drange genuggethan zu haben. Da sagte mir meine Mutter eines Abends, als ich wieder Reisepläne schmiedete: mein lieber Junge, es reicht nur noch für zwei Jahre; das bin ich dir schuldig, jetzt mitzuteilen. – Ich erschrak nicht wenig. Gewiß nicht über die Aussicht, nach so kurzer Zeit mittellos dazustehen, aber wohl über die plötzliche Enthüllung ihres eigenen, durch unglaubliche Opferwilligkeit herbeigeführten Notstandes. Es versteht sich von selbst, daß ich mich sofort zum Examen meldete – den ,Doktor‘ hatte ich schon vorher gemacht – und, nachdem ich es ihren Erwartungen entsprechend bestanden, mich um Probejahr meldete, nur noch auf eine baldige Anstellung bedacht. Aber das war gar nicht nach ihrem Sinn. Ich sagte dir doch, daß es noch für zwei Jahre reiche, schalt sie; warum also diesen kleinen Vorteil nicht ausnutzen? Sie ließ mir keine Ruhe, bis ich das Buch schrieb, das längst vorbereitet war, und mich als Privatdocent habilitierte. Von sich behauptete sie, nicht ausreichend beschäftigt zu sein, und eröffnete ein Pensionat, natürlich, um unser Einkommen zu verbessern. Ich wurde Professor. Seit ich, vor einigen Jahren schon, zum Ordinarius ernannt bin, konnte sie sich, ohne ihr Gewissen zu beschweren, zur Ruhe setzen.

Das war meine Mutter. Leider konnte sie sich nicht bis in ein hohes Alter hinein der Früchte ihres aufopfernden Fleißes, ihrer zärtlichen Sorge erfreuen. Nicht einmal der sehnliche Wunsch ist ihr erfüllt worden, die kleine Wirtschaft einem lieben Schwiegertöchterchen abtreten zu können. Mein Versunkensein in die Arbeit, mein geringes Bedürfnis nach geselligem Umgang, meine Ungeschicklichkeit … Ich will davon nicht reden. Solange ich sie hatte, vermißte ich auch nichts. Nun ist sie – hinüber, und ich fühle meine Verlassenheit um so schmerzlicher, als sie mir alles war. –“ Er wendete sich dem Grabe zu und faltete die Hände. „Mein gutes – gutes Mütterchen!“ murmelten seine Lippen kaum hörbar.

Seine einfache Erzählung hatte mich tief bewegt. Ich trat hinter ihn und legte die Hand leise auf seinen Arm. „Ich danke Ihnen,“ sagte ich, „Sie haben mir wohlgethan.“ Er griff nach meiner Hand und küßte sie. „O, daß ich Ihnen von ihr sprechen durfte –!“ rief er und nickte mir freundlich zu.

Es war schon recht dunkel geworden. Ich ging, und er folgte mir diesmal. Wir schritten schweigend nebeneinander den Hauptweg hinab und zur Pforte hinaus. Auch dann verabschiedete er sich nicht. Er fing nun von einer großen Arbeit zu erzählen an, die er unter Händen hätte, und wie seine Mutter verständnisvoll sich über deren Fortschritt gefreut. Im Eifer schob er seinen Arm unter den meinen. Ich mochte wohl ein wenig gezuckt haben, denn er bemerkte: „Verzeihen Sie, Fräulein Lina – ich pflegte so mit meiner Mutter zu gehen. Die alte liebe Gewohnheit …“ Er zog die Hand auch nicht zurück. Vor unserem Hause blieb ich stehen und machte mich frei. Er blickte mich verwundert an. „Ich wohne hier.“

„Sie wohnen hier? Was ist denn das für eine Straße? Ah, richtig! Und die Nummer? Elf. Das will ich mir doch merken.“

„Adieu, Herr Professor!“

„Adieu, mein liebes Fräulein. – Elf – elf – elf …“


Ich muß ihm viel von meinem Vater erzählen. Er kann gar nicht genug davon haben. Mir selbst macht’s Freude. Ich schildere ihn in seiner launigen Art bei allen kleinen Wechselfällen des häuslichen Lebens und suche mir seine Worte genau ins Gedächtnis zurückzubringen. Es werden lauter Anekdoten daraus. Es mischt sich aber auch gar viel Rührendes ein. „Sie haben seinen Humor geerbt,“ bemerkte der Professor mehr als einmal.

Aus einem alten Vorrat von Visitenkartenphotographien brachte ich ihm ein Blättchen mit. Er fragte gleich eifrig, ob er’s behalten dürfe; er möchte das gute, freundliche Gesicht immer gegenwärtig haben. Ich freute mich darüber und ließ ihm das kleine Bild gern.

„Wie verschieden die beiden waren, die hier friedlich nebeneinander ruhen,“ sagte er auch. „Und doch wären sie gewiß gute Freunde geworden. Meine Mutter brachte es nicht so heraus, aber es war auch ihre Weise, die Dinge nicht schwer zu nehmen und für alles Widersprechende und Widerstrebende im Gemüt einen Ausgleich zu suchen. Hell zu lachen gelang ihr selten, aber aus ihren Augen blickte immer der Sonnenschein, von dem ihr Herz voll war.“

Manchmal bin ich mir ganz böse, daß ich so bald schon an des Vaters Grab gar nicht so traurig bin, als ich gemeint hatte, mein ganzes Leben lang sein zu müssen. Daran ist einzig und allein der Professor schuld, der sich aber den gleichen Vorwurf macht.

Heute sagte ich ihm, daß wir uns nun wohl in längerer Zeit nicht mehr auf dem Friedhof treffen würden. Die Sonne gehe schon so früh unter, daß ich eine andere Stunde wählen müsse, in der er jedenfalls beschäftigt sei. Darüber sprach er sich ganz unglücklich aus – mit Worten, die er gar nicht recht bedacht haben konnte. Das wenigste war noch, daß er mit dem ernstesten Gesicht versicherte, der Tag, an dem er mich nicht sehe und spreche, zähle für ihn schon gar nicht. Er beschwor mich, von diesem „entsetzlichen Beschluß“ abzustehen. Ich sei ja in seinem Schutz, und er verpflichte sich, mich jedesmal nach Hause zu bringen.

Ich konnte nur wiederholen, was ich schon gesagt hatte. Es that mir aber selbst recht leid, daß ich mich so streng beweisen mußte. Die Mutter hatte sich schon genug über meine Friedhofsbesuche im Halbdunkel verwundert. Er begleitete mich auch diesmal bis zu unserer Wohnung und hätte offenbar das Gespräch an der Hausthür gern noch ein Viertelstündchen fortgesetzt. Er nahm ganz gerührten Abschied.


Ich denke … Aber das schreibe ich lieber nicht hin.

Wir waren vorgestern am Vormittag auf dem Friedhof. Gestern tobte ein abscheulicher Sturm; die Mama ließ mich auch nicht allein fort. Heute aber hatte das Wetter sich wieder ziemlich abgestillt; es war nur recht empfindlich kalt.

Als ich in den Weg zum Grabe einbog, kam mir der Professor mit raschen Schritten entgegen, die Arme ausbreitend, als ob er mich umfassen wollte. „So hab’ ich doch nicht umsonst gewartet!“ rief er. „Zu irgend einer Zeit mußten Sie doch kommen – und ich wäre geblieben bis zur letzten Viertelstunde vor dem Kolleg. Wissen Sie, daß ich schon gestern abend bei Ihrer Frau Mutter anklopfen wollte?“ fragte er dann verlegen lächelnd. „Aber ich fand das Haus nicht. Wirklich, ich fand das Haus nicht. Ich habe immer, wenn ich mit Ihnen ging, zu wenig darauf geachtet – und eins sieht in der Straße wie das andere aus.

„Aber eins hat doch nur die Nummer elf.“

„Elf!“ rief er. „Ganz recht, nun fällt mir’s ein, daß Sie mir sagten … Aber wer denkt an so etwas, wenn er seiner Sache ganz sicher zu sein glaubt?“

An den Gräbern, deren Rosen die Sonne hell beschien, fand er, daß sich zu dieser Jahreszeit wirklich der Besuch am Mittag empfehle. „Im Frühling am Morgen,“ setzte er hinzu. „Ich stelle mir’s ganz reizend vor, hier die Sonne über die Dächer und Türme der Stadt aufsteigen und rings um die Ruhestätten der Toten die Natur erwachen zu sehen. In den Büschen, Hecken und Laubkronen singen gewiß hier die Vögel ganz ungestört. Man wäre für den ganzen Tag gestärkt.“

„Ich könnte mir’s recht hübsch denken,“ entgegnete ich, „aber –“ … Ich zögerte ein paar Sekunden lang, ob ich’s heraussprechen sollte, was mir plötzlich in den Sinn kam. Warum? Und warum nicht? Ich that’s. Wer könnte wissen, ob ich im Frühjahr noch hier sein würde, oder auch nur so in der Nähe.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0830.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)