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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

daß ich mir häufiger die Freude eines Besuchs gönnen könnte – zumal am frühen Morgen.

Die Wirkung dieser Worte auf den Professor war fast beängstigend. Von seinem Gesicht ließ sich die Anstrengung ablesen, sie zu verstehen. Dann richtete er auf mich einen erschrockenen Blick, stieß ein paar Laute aus und räusperte sich, als ob ihm der Hals zugeschnürt sei. „Sie – wollen fort – Fräulein Lina –?“ stotterte er.

„Ich will nicht,“ antwortete ich, „aber ich weiß nicht, ob ich nicht werde müssen. Meine Mutter sprach von der Notwendigkeit, nach einer kleinen Stadt zu ziehen.“

„Das ist ja rein unmöglich!“ rief er. „Und weshalb –?“

Ich machte ihn vorsichtig mit unsern Verhältnissen bekannt. Wenn man auf ziemlich großem Fuß gelebt habe und sich plötzlich sehr einzuschränken genötigt sei, empfehle sich’s vielleicht, wenigstens für eine Weile, den Leuten ganz aus den Augen zu gehen. Aber ein fester Entschluß sei noch nicht gefaßt.

Er nahm den Hut ab, als würde ihm heiß, und wiegte den Kopf, immer von Zeit zu Zeit nach mir hinüber blickend. „ So – so – so – so … Das habe ich gar nicht geahnt, daß Sie – daß Sie gewissermaßen in bedrängter Lage – Ja, wenn man in hoher amtlicher Stellung – und ohne Vermögen …“

Ich leitete das Gespräch auf ein anderes Gebiet über. Er blieb aber nachdenklich und zerstreut. Als ich mich bald verabschiedete, vergaß er sogar, mir die Hand zu reichen. Es schien ihm auch gar nicht einzufallen, mir seine Begleitung anzubieten.


Ob ich dem Professor unrecht thue? Er war wirklich gestern recht sonderbar. Wie man zu sagen pflegt: mit kaltem Wasser begossen. Ein armes Mädchen –! darauf war er nicht vorbereitet. – Ich verspätete mich heute absichtlich. Aber es war keineswegs nötig. Er mußte schon viel vor der Zeit gekommen und gleich wieder fortgegangen sein. Ich fand auf dem Rasen, durch einen kleinen Stein beschwert, einen mit Bleifeder geschriebenen Zettel: „Muß heute leider ausbleiben: ein Doktorexamen beansprucht mich wahrscheinlich über Mittag hinaus. Ehrerbietigsten Gruß.“

Kein Zweifel, die Abhaltung war nicht vorgeschützt. Er konnte auch erst am Abend erfahren haben, daß er bei dem Examen thätig sein müsse. Vielleicht war ein Kollege plötzlich erkrankt. Und doch, es verstimmte mich, daß gerade heute … Als ob dabei eine Absicht gewesen wäre. Das Entschuldigungsschreiben war auch so kühl gehalten. Knapper konnte der Grund des Fortbleibens gar nicht angegeben werden. Und ohne jede Anrede – er schien sonst ein rechtes Vergnügen daran zu haben, überall recht überflüssig sein „Fräulein Lina“ einzufügen – und „ehrerbietigsten Gruß“. Ehrerbietigsten! Wie an eine Respektsperson. Nicht einmal eine Unterschrift.

Ja, eine arme Geheimratstochter …

Unsinn! Unsinn! und nochmals Unsinn! Erstens: was geht es mich an? Und zweitens – es war doch recht liebenswürdig, daß er sich abmeldete und mit dem Zettel dorthin lief, so wenig Zeit er gewiß hatte. Er mußte wohl auch an die Möglichkeit denken, daß die Schrift in unrechte Hände kam; da beschränkte er sich auf das Notwendigste und schloß mit einer höflichen Verbeugung. Zu nennen brauchte sich mir ja der Schreiber nicht. Das wird er gewiß bedacht haben.


Auf Vaters Grabe lag ein prächtiger Blumenstrauß. „Der gehört dorthin,“ sagte ich und zeigte auf den andern Hügel.

„Nein, er gehört dorthin, wo er liegt, Fräulein Lina,“ antwortete er mit komischer Schneidigkeit. „Ich weiß nicht, ob Sie ihn angenommen haben würden, wenn ich ihn Ihnen überreicht hätte. Aber dagegen werden Sie doch nichts einwenden können, daß ich als ein Zeichen wärmster Verehrung für – für – für … nun ja, für Sie – das Grab des Mannes schmücke, der Ihnen im Leben der teuerste war. Ich glaube wenigstens annehmen zu dürfen, daß kein anderer …“ Die Stimme wurde plötzlich leise und unsicher, die Stirne rot. „Thun Sie mir die Liebe, Fräulein Lina, und lassen Sie den Strauß da – verwelken.“

„Sie haben recht,“ erwiderte ich, „keiner war mir teurer als er. Herzlichen Dank!“ – Ich reichte ihm die Hand, und er küßte sie übereifrig. Er schien sich sehr erleichtert zu fühlen.

„Das war gestern ein schlimmer Tag,“ fuhr er fort. „Ich glaube, ich habe dem armen Kandidaten Fragen vorgelegt, die ich selbst nicht hätte beantworten können. Was mir aber auch im Kopf herumging –! Fräulein Lina – Sie müssen noch einmal recht eindringlich mit Ihrer Frau Mutter sprechen. Sollte es denn wirklich durchaus nötig sein, daß Sie – von hier fort …“

Es sei ja noch keine endgültige Entscheidung getroffen, entgegnete ich, wennschon sie sich nicht lange werde aufschieben lassen. Jedenfalls könne ich nun darüber beruhigt sein, daß des Vaters Grab in bester Obhut zurückbleibe.

„Ach – das!“ rief er ganz ärgerlich. Das verstände sich ja von selbst – das! „Als ob er mein eigener Vater –! Aber–! Aber …“ Er setzte sich unvermutet in Bewegung, ging einige Schritte vor, kehrte zurück, umkreiste die beiden Hügel, trat endlich zwischen sie, wo ich stand, und ergriff meine Hand. „Fräulein Lina – gäb’s denn kein Mittel, vorzubeugen, daß ein so bedauerlicher Beschluß – jemals – gefaßt werden könnte?“

Ich zuckte die Achseln.

„Aber ich wüßte eins! Jetzt, wo Sie mich freundschaftlich in Ihre Sorgen eingeweiht haben – jetzt wüßte ich wohl eins. Freilich, es forderte Ihrerseits ein großes Opfer. Ich kann es nur nennen, weil ich bedenke, wie schwer es Ihnen fallen würde, das Grab Ihres teuren Vaters zu missen. Vielleicht … Ja, ich nenne es: Wenn Sie sich mit mir verheirateten –“

„Herr Professor!“ unterbrach ich ihn, wirklich erschreckt über diese sonderbare Liebeserklärung.

„Ja, ich weiß, ich weiß,“ eiferte er weiter und zerdrückte dabei fast meine Hand. „Es wäre ein großes Opfer. Ich bin so viel älter als Sie – und wirklich schon recht alt. Jedenfalls über meine Jahre alt – und häßlich – und ein Mensch, der immer hinter seinen Büchern gesessen hat und so wenig Anlage besitzt, das Leben gesellig zu genießen, und der nicht einmal mit Glücksgütern gesegnet ist. Und Sie dagegen – abgesehen davon, daß Sie auch nicht mit Glücksgütern gesegnet sind, was Ihnen aber gar nichts schadet – Sie dagegen, Fräulein Lina …“

Ja, was er nun von mir sagte, das kann ich gar nicht aufschreiben. Es war aber sehr schmeichelhaft für mich, und er mußte wohl merken, daß ich gar nicht böse darüber wurde, denn er steigerte seine Lobeserhebungen fortwährend und sprach zuletzt mit immer vergnügterem Gesicht wirklich nur noch dummes Zeug.

„Aber, mein Himmel!“ fiel ich zuletzt ein, „wenn Sie das alles, was Sie da sagen, für wahr halten – – am Ende lieben Sie mich dann wohl gar?“

Er war ganz Staunen. „Das sprach Ihres Vaters Tochter!“ rief er. „Das Wichtigste ließ ich ungesagt – freilich auch das Selbstverständlichste. Natürlich liebe ich Sie – und wie keinen Menschen auf der Welt! Es ist, als ob Sie an Stelle meiner Mutter … Nein, ganz anders, ganz anders – aber ganz anders. Ob Sie jedoch, Fräulein Lina – – – – – – –“


Ich habe nicht die Geduld, die Begebenheiten dieses merkwürdigen Tages in allen Einzelheiten aufzuschreiben. Ich erinnere mich auch nicht mehr, was ich weiter gesprochen habe und was er. Ich weiß auch nicht, wie es kam, daß wir einander plötzlich in den Armen lagen, unbekümmert darum, ob man uns etwa beobachtete, und wie man’s auslegte. Einen Augenblick nur. Dann waren wir ganz vernünftig und hielten einander nur noch bei den Händen, lachten und weinten. – „Soll sie’s gleich wissen?“ fragte er. Ich wußte, wen er meinte, und nickte.

Und dann gingen wir bei hellem, lichtem Tage Arm in Arm über die Straße nach Hause.

Die Mama war gar nicht so überrascht, als ich voraussetzte, aber tief gerührt, nun sie ihren Segen gab. – „Ja, ja – Ehen werden im Himmel geschlossen,“ sagte sie.

„Wenn der Papa das erlebt hätte!“

„Und meine Mutter –!“

Ich lehnte mich an seine Brust. – „Aber das war ja unmöglich, Max! Zwischen Gräbern haben wir uns fürs Leben gefunden.“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0831.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2023)