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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

seinen beiden Führern, drei dunkle sitzende Klumpen, die, rückwärts mit dem Pickel steuernd, blitzschnell über den weichen Schnee herabfuhren.

Vor einer Gletscherspalte bremsten sie, standen auf und schritten wie gewöhnliche Menschen weiter. Der Tourist stürzte dabei ein paarmal ohne Veranlassung lang hin und raffte sich mit einer ungeduldigen Bewegung wieder auf.

„Mein Gott, er ist krank!“ rief die Französin. Aber ihr Gatte, die Leuchte der Dauphiné, tröstete sie. Das sei nur die Ermüdung. Da setze man den Fuß schief in den Schnee und verliere so das Gleichgewicht.

Nicht lange dauerte es, so klomm der Mann vom Berge den kurzen Geröllpfad längs der Hüttenfelsen empor. Er nahm die Schneebrille ab und klappte die Mütze auf. Ein typisches preußisches Kavalleristengesicht mit scharfen sonnengebräunten Zügen und weißblondem Schnurrbart kam zum Vorschein.

„Uff!“ sprach er und ging schwer, mit krummen Knieen, wie eben aus dem Sattel gestiegen, auf die Thür zu. „Höllisch steile Chose! Spür’ den Montblanc förmlich in den Knochen!“

„Sie sind müde!“ sagte die holländische Dame. „Man sieht es Ihnen an.“ Sie wußte nicht, daß in dem rauhen Bergsport derartige Beobachtungen bei sich und anderen verschwiegen werden. Der Lieutenant zuckte denn auch die Achseln: „Gott, müde? … nee … das nu nicht! nur so’n bißchen dösig wie nach’m Distanzritt! War übrigens göttlich oben. Blick von Karlsruhe bis Marseille!“

„Das haben Sie wirklich gesehen?“

„Nee … ’s sind Wolken drüber,“ lachte der andere. „Sehen thut man bloß die Berge. Na, nu werd’ ich mich doch ein Viertelstündchen in die Klappe legen.“ Der deutsche Tourist verschwand in einer der Kammern, in die ihm die Wirtin einen großen Krug Selterswasser brachte.

Viel schlafen konnte er wohl nicht! Das ganze Haus zitterte vor Lärm. Die krachenden Tritte der Nagelschuhe auf den dünnen Dielen des Oberstocks, das Gepolter auf den Treppen und Fluren, das Lachen und Schwatzen der Führer in der Küche, die aufgeregten Stimmen der Südfranzosen, das Pfeifen der gelangweilten Engländer, das Juchzen und Jodeln auf der Galerie, das alles klang wirr ineinander und paßte so wenig zu den Bergen umher.

Die schwiegen in ihrer stillen Größe. Und in diesem kleinen Stall, der wie ein verlorenes Sandkorn in der unermeßlichen Gletscherwelt lag, da schrie und wirtschaftete diese Handvoll winziger Menschlein, rannte durcheinander, gestikulierte, beratschlagte und gebärdete sich, als seien sie und ihr Dasein in dieser weißen Ewigkeit von irgend welcher Bedeutung.

Allmählich war jetzt schon die Dämmerung hereingebrochen. Die Sonne stand als eine blutrote Dunstscheibe zwischen den violetten Schattenrissen der Berge im Westen. Bunte Farbentöne zitterten von dort aus gegen den im Grau ersterbenden Osten. Die Montblancspitze hoch oben und die ragenden Eisnadeln glühten im Gold zu dem blaßblauen, sonnenwärts seegrün leuchtenden Himmel, und ein rosenroter Schein belebte plötzlich weithin die weißen Schneefelder, über denen, noch kaum erkennbar, die Planeten als Vorläufer des Sternenheeres im Flimmerglanze aus dem Weltall traten.

Unten, jenseit der Schneegrenze, war schon vollständige Nacht. Nur die Gletscherzungen schimmerten noch matt, wie aus der Tiefe eines schwarzen, langsam steigenden Oceans herauf, und noch weiter unter ihnen blinkten, gleich einem feurigen, am Meeresboden festgekrallten Seestern, die strahlenförmig auslaufenden Laternenadern von Chamounix.

Ueber der lautlos schwellenden Flut der Nacht glühte noch ein Sonnenabglanz wie ein Streifen geschmolzenes Erz auf der breiten Schulter des Dome du Gouter. In seinem Schein sah man deutlich die Schneewirbel dort oben stäuben und tanzen und in sturmgeblähten Schleiern zu Thale wehen. Dahinter war der Himmel schmierig und trübe, von blauschwarzen Dunststreifen durchsetzt, von denen, wie riesige Fledermäuse, aschgraue abgerissene Nebelfetzen der Nacht entgegenschwammen.

*  *  *

Er stand jetzt ganz allein in der zehnten Abendstunde vor dem Hause. Innen war es allmählich still geworden und die Fensterläden waren geschlossen. Alles schlief. Nur im Wirtszimmer lärmten noch die Südfranzosen und begrüßten mit Händeklatschen jede neue aus der Küche herbeigebrachte Platte. Dann gingen auch sie zur Ruhe. Ringsum war Abendkühle und Mondschein.

Ein märchenhaftes Schweigen lag über der Hochwelt, in deren verborgensten Schründen und Falten der einsame Wanderer am Himmel oben, der Mond, sein träumerisches Silberlicht sich widerspiegeln ließ. Der einsame Mann da unten auf der Erde schaute zu ihm auf. In ihm war alles feierlich und stumm. Hier war die Ruhe. Das Nichts.

Jenes Nirwana, das freudlos und leidlos den erkaltenden Erdball einst in weiße Gletscherlinnen betten wird, wenn die letzten lebenden Wesen da unten ausgeatmet und Liebe und Haß, Lachen und Weinen, Angst und Hoffnung mit sich ins Grab genommen haben. Dann ist der bunte Traum der Welt ausgeträumt. Tiefer Schlaf – selige Stille, in der Menschenbewußtsein und Menschenerkenntnis stumm versinken.

Aber noch leben die Menschen und lieben und hassen und lachen und weinen. Im Dämmern der Mondnacht trug das ewige Firnreich ihre Spuren; Fußstapfen im Schnee, die sich, als habe eine Riesenschlange des Mittags auf dem Gipfel rasten wollen, in vielfachen Windungen als festgetretener Pfad die Hänge hinaufzogen. Weiter oben wohl noch Stufentritte in blitzblanken Eiswänden und da und dort, in windgeschützten Kesseln, die Eindrücke schwer hingelagerter rastender Körper, leere Flaschen, und Papierfetzen, über denen jetzt im Wehen der Nacht leise und unermüdlich die Firnkörner zu einer neuen Decke zusammenstäubten und alles zu verwischen strebten, was an die verhaßten Eindringlinge, an den ewigen Kampf zwischen dem Menschen und dem Berg erinnerte.

Aber ganz gelang es den dahinwirbelnden Schneeschleiern in dieser heiteren Sommernacht doch nicht, den Kehricht des verflossenen Tages mit ihrem reinen Weiß zu überpudern. Es blieben noch, dem geübten Auge wohl kenntlich, Merkmale zurück, die dem einsamen, von keinem Führer und keinem Genossen begleiteten Bergsteiger den rechten Pfad zur Höhe wiesen. Brach er kurz vor Mitternacht auf, ehe da innen wieder das Kerzenlicht durch die Ladenluken flammte und in Gähnen, Seufzen und Fluchen, im Knattern des Küchenfeuers und dem Gepolter der Führerschuhe der neue Tag begann, so hatte er einen ungestörten Aufstieg vor sich und stand in der Morgensonne am Ziel.

Würde er die Sonne wieder untergehen sehen? Ganz plötzlich hatte er die ruhige Gewißheit: Nein. Heute war sie zum letztenmal vor seinen Augen im Abendgold versunken. Wenn sie morgen wiederkam, nahm sie ihn mit sich fort, in unbekannte Länder, die selbst er, der Weitgereiste, nie geschaut.

Was lag auch an einem Menschen, hier am Montblanc? Hier hatte schon mehr als einer seinen Tod gefunden. Wenn hier, vom Süden her donnernd, der Föhn dem Trotz der Gipfelriesen zu Hilfe kommt und das Chaos des Schneesturms über die erdverlorenen Höhen hinschüttet, daß der Fuß des Wanderers ermattet in den weichen Federn versinkt – nach solchen Tagen hatte das kalte Mondlicht schon ganze Reihen der kleinen schwarzen Insekten still und starr auf dem weißen Tuche liegen sehen. Und mehr noch waren es, die der Berg selbst in Verwahrung nahm, die er, mit einem eisigen Sarg umpanzert, tief in den Schlünden der Gletscher für lange, vielleicht für immer den Menschenaugen entzieht.

Morgen freilich lächelte der Berg. Aber auch das Lächeln der Riesen tötet, wenn der andere schwach ist. Und er fühlte sich matt und klein. Vergänglich gegenüber dieser ewigen Welt, hinschwindend wie ein Feuer, das schließlich in sich selbst erlöschen muß, wo das Todesschweigen des Eises die Jahrtausende überdauert. Verging dies Lichtpünktchen hier in der Wüste, so flammte unten im Thal ein neues auf. Starb er, so wurde anderswo ein anderer Mensch geboren. Das kam und ging und war nichtig unter der Unermeßlichkeit dieser Himmelswölbung, die in tausendfachem, unruhigem Gefunkel sich über dem sehnenden Auge spannte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0844.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2023)