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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Resident Rondeck hat die Stadt verlassen!

Der Bürgermeister teilte es der Versammlung mit.

„Während wir beraten, handeln die andern“, rief Jastram vorwurfsvoll, „nun seht zu, wie ihr das aufgeregte Volk beruhigt! Hätten wir den Rondeck festgehalten – man hätte wenigstens unsern guten Willen gesehen. Jetzt geht’s euch an die Perücken, würdige Herren!“

Der Abend glomm indes durch die bunten Fensterscheiben des Rathauses; bei der drohenden äußeren und inneren Gefahr beschloß der Rat, die Nacht hindurch Sitzung zu halten – und bald fielen die Lichter der angezündeten Lampen auf die bekümmerten, faltenreichen Gesichter.

Ganz Hamburg war nun im Fieber und schlummerlos; heftige Windstöße fuhren durch die Luft, rüttelten an den alten Patrizierhäusern und schaukelten die kupfernen Laternen mit den erst seit kurzem eingeführten Straßenleuchtern; der Mond warf durch zerrissenes Gewölk seinen rasch wieder verdunkelten Lichtstreifen auf das breite Alsterbecken und die masten- und flaggenreiche Elbe. In den Hafengassen drängten sich die Schiffsleute, die Barken- und Schonerführer und sprachen tapfer in den Matrosenschenken dem Branntwein zu; dann zeterten sie auf der Straße gegen den Rat; in den Brauhäusern saßen die zünftigen Bürger beratend beisammen und mancher Faustschlag erdröhnte auf den Tischen. Spät am Abend noch waren Trommler durch die Straßen gezogen, begleitet von einer bunten, lärmenden Volksmenge; sie trommelten den Rittmeister Hertwig aus, einen der Entführer Snitgers, auf dessen Haupt ein Preis von hundert Thalern gesetzt war. Lichter brannten in allen Häusern und wanderten hin und her. Die Soldaten der Nachtwache mit ihren siebzehn Schuh langen Spießen, in ihren „unsträflich gemachten“ Rüstungen hatten diesmal das Zusehen und beteiligten sich an den erregten Gesprächen der Bürger, die in Gruppen beisammen standen, statt für die Nachtruhe zu sorgen und die Störenfriede in die Häuser zu jagen. Ueber die Wälle aber, vom Millernthor zum Dammthor, vom Dammthor zum Steinthor eilte der Kriegskommissar Koordt Jastram, sprach bei den Wachen vor und musterte sorgsam ihren Stand, denn es lag viel Unheil und Kriegsgefahr in der Luft.

Der anbrechende Morgen zeigte ein freundlich Gesicht – und schon in der Dämmerung hatten sich die Straßen gefüllt. Noch keine Nachricht von Snitger – die Erbitterung wuchs; man zeigte schon auf die Häuser der Landesfeinde, die man niederreißen müsse. Große Massen wälzten sich nach dem Steinthor. Dorthin mußte die erste Kunde gelangen, ob es den Nachreitenden gelungen war, die Räuber einzuholen.

Die Thore aber blieben geschlossen – und Jastram hatte Mühe, die ungestüme Volksmenge am Steinthor im Zaum zu halten. Die Sonne stieg höher, die Ungeduld der Menge wuchs – schon mußte Jastram fürchten, daß sie, in die Stadt zurückstauend, Verwüstung anrichten und Unheil bringen würde über alle, an deren Schuld sie glaubte.

Da dröhnte Hufschlag draußen vor der Brücke; man kannte den Reiter, der auf atemlosem Roß angesprengt kam, und öffnete ihm das Thor: es war Schweder von Brüllen.

„Snitger ist befreit,“ rief er, sich den Schweiß abtrocknend – und das hallte mit tausendfachem Echo weit stadteinwärts. Die aber am nächsten standen, erfuhren die Kunde, welche der Reiter noch stockend mit sparsamem Atem vorbrachte: „Sturmschnell ging’s auf die wilde Jagd, wir hatten uns mit den Reitern verstärkt, welche der Hammer Vogt uns stellte – wir konnten die Spuren der Räuber verfolgen auf allen ihren Zickzacklinien. Sie hatten inzwischen den Landungsplatz der Artlenburger Fähre an der Elbe erreicht – da hofften sie, bald ihren Raub auf einer Lüneburger Festung zu verbergen, wo es Herrn Snitger gegangen wäre wie einst dem Lübecker Wullenweber – man hätte ihm auf der Folter Geständnisse abgepreßt, ihn gemartert und gerichtet; doch der Himmel hatte ein Einsehen. Die Artlenburger Fähre, die am jenseitigen Ufer der Elbe lag, ging nicht bei Nacht und regte sich nicht, trotz aller Zurufe. In einem naheliegenden Armenhäuschen wurden die Gefangenen untergebracht. Fluchend und schimpfend ging der Rittmeister hin und her, der Kornett von Gehlen, ein sauberer Bursche, verhöhnte Snitger und führte unziemliche Reden gegenüber seiner Frau, so daß sie Thränen vergoß und ihr die Schamröte in die Wangen stieg. Mit dem ersten Morgengrauen kam die Fähre herüber; der Rittmeister mahnte, die Pferde zu besteigen; der Wagen rasselte eben schwer über die Bohlen – da wie der Blitz kamen wir den Berg herunter – Knall auf Knall, der Rittmeister verfehlte mich – ich schlug ihm mit der Pistole ins Gesicht und meine Reiter faßten ihn. Nach kurzem Kampfe wurden alle bewältigt – Snitger ist frei, er weilt noch mit seiner Frau in Bergedorf; doch in einigen Stunden kommt er nach der Stadt.“

Das war ein grenzenloser Jubel, der sich von Straße zu Straße fortpflanzte; nun regte sich alles, den Heimkehrenden einen festlichen Empfang zu bereiten. Könige und Fürsten hatten Hamburg besucht im Laufe des Jahrhunderts, aber noch keinem war solcher Empfang zu teil geworden.

Von dem Rathausplatz bis zur Grenze des Hamburger Gebietes Kopf an Kopf, alt und jung, Weiber und Männer, Vornehme und Geringe, bis hinauf zu den Firsten der Dächer, den Zinnen der Mauern, den Wipfeln der Bäume. Aus den Turmluken und Fenstern wehten Gewerks- und Schiffsflaggen; Freudenschüsse ertönten und alle Glocken läuteten. Mit lautem Jubelruf wurden die Geretteten begrüßt, Zuckerwerk und Südfrüchte, Lorber- und Myrtenkränze ihnen in den Wagen geworfen, Wimpel und seidene Bänder daran geheftet, und ringsum ertönte der Ruf: „Heil dem Vater des Vaterlandes!“

Jeronimo Snitger winkte abwehrend zur Rechten und zur Linken; er hatte solchen Triumph nicht ersehnt; zu unverdient erschien ihm diese Huldigung; im stillen fürchtete er, daß auf so maßloses Glück ein böser Rückschlag folgen werde. Er hatte etwas freundlich Leutseliges, Gewinnendes in seinem ganzen Wesen; seine Herzlichkeit entzückte das Volk, für dessen Rechte er stets mit Wärme eingetreten war. Er war in Spanien geboren, wo sein Vater längere Zeit seßhaft gewesen, und hatte auch dort seinen Vornamen Jeronimo erhalten; in der Welt war er viel herumgekommen auf Geschäftsreisen, als ein angesehener Kaufmann mit weitreichenden Verbindungen; selbst wohlhabend, ja vermögend, hatte er doch nie die Partei der Reichen genommen, sondern war stets ein Anwalt der armen Leute gewesen. Sein großes, sanftes Auge wandte er bisweilen seiner jungen Frau zu und drückte ihr herzlich die Hand – ihr gönnte er alle die Ehren, den schönen Triumph nach überstandenem Herzeleid. Und die strahlend hübsche Katharina war heute ganz Sonnenschein; sie dankte mit Kußhand und Kopfnicken. Solch ein Glück hatte sie nicht geträumt, als sie vor kurzem ihre Hand dem braven stattlichen Manne reichte.

Der Rat empfing Snitger und seine Frau feierlich mit herzlichem Glückwunsch; das Volk geleitete sie nach Hause, ihnen Schutz gelobend bei künftigen Fährlichkeiten. Hohe Freudenfeuer durchleuchteten des Nachts die Gassen; das Volk tanzte fröhlich um dieselben beim Klange der Musik; alle Fenster waren erleuchtet; ganz Hamburg schwamm in einem Lichtmeer: es war ein seltenes Freudenfest.

*  *  *

Einige Zeit nach diesem Triumphzug war Snitger in seinem Garten in Hamm mit Hacke und Spaten beschäftigt, die Erde für neue Anpflanzungen aufzugraben. Seine Gattin trat hinzu, als er gerade eine Ruhepause machte; beide erfreuten sich an dem üppigen Tulpenflor, den Snitger durch seine Handelsverbindungen mit Holland erhalten hatte. Katharina schmiegte sich liebkosend an ihn und sagte dann mit der Herzenswärme, die in ihrem Wesen lag:

„Sieh, lieber Mann – wie schön ist’s bei unseren Blumen, so friedvoll alles, und im Schatten dieser Linden ist ein freundlich Ruheplätzchen, wie sich’s schöner nicht denken läßt! O zieh’ dich doch hier aufs Land zurück, laß das ganze städtische Treiben im Stich! Dort im Armenhäuschen an der Elbe haben wir ja in jener entsetzlichen Nacht darüber nachdenken können, wohin es führt!“

„Es ist unmöglich! Ich bin Mitglied der Dreißiger, ich muß für das Wohl der Stadt sorgen; man glaubt an mich, man vertraut mir in diesen schwierigen Zeiten. Ich habe vieles begonnen, was ich zu Ende führen muß.“

„Ueberlaß doch das dem Jastram! Dem ist nur wohl, wenn alles drunter und drüber geht; glaube mir’s, das ist kein Mann

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0858.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)