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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Montblanc.

Roman von Rudolph Stratz.
(Schluß.)


23.

Hinauf in der heiligen Stille, ferne über der Welt, dem höchsten Ziel entgegen! Tief da unten liegt die bunte Mannigfaltigkeit der Dinge, liegt Farbe und Lärm, Bewegung und Wechsel. Hier oben ist nur zweierlei, reglos und dauernd: ringsum die weiße Unermeßlichkeit des ewigen Schnees und über ihr die sterndurchwirkte Unendlichkeit des Weltraumes.

Und zwischen beiden dies kleine schwarze Pünktchen Leben, dies leicht sich kräuselnde Wölkchen von heißem Atem in frosterstarrter Oede, das sich da langsam und zähe in jene Welt hinaufarbeitet, in die es nicht gehört – die ihm verschlossen bleiben sollte nach dem Willen der Natur und ihm innerlich ewig fremd bleiben wird.

Lange schon war hinter dem einsamen Wanderer das „Hotel des Grands Mulets“ geschwunden und mit den es umstarrenden Felsen als schwarzdämmernde Masse in der Nacht des Thals geblieben. Es war nichts mehr um ihn, was an Menschen erinnerte, als die schmale, halbverwehte Fußspur des preußischen Lieutenants vom Tag vorher, die sich im Mondglanz vor ihm weiter und weiter zum Himmel hinaufzog. Erst in weitem Hakenschlag zu dem Kleinen Plateau, dann steil und gerade aufwärts in knirschendem, hartgebackenem Schnee, dessen Flächen weithin jäh wie schiefgelegte Mauern abschossen.

Schritt um Schritt, Stufe um Stufe, Viertelstunde um Viertelstunde in tiefem, lähmendem Schweigen. Er dachte nichts mehr, er fühlte nichts mehr, während er schweratmend, den Blick auf den Boden gerichtet, aufwärts klomm – er wollte nur noch. Er wollte auf den Gipfel, der stechenden Schmerzen ungeachtet, die ihn immer heftiger zur Umkehr mahnten, und all die zähe Energie des Afrikaners raffte sich noch einmal gegen sich selbst zum entscheidenden Schlag zusammen und trieb den Körper vorwärts, wie der Reiter das zitternde Roß.

Alle Augenblicke schien es, als wollte die Firnwand ein Ende nehmen. Aber immer neue weiße Kämme lugten hinter den bezwungenen Bergwellen hervor, und immer weiter führte die schnurgerade Spur wie eine Himmelsleiter hinauf in die gestirnte Nacht.

Und wieder eine Viertelstunde und noch eine. Da weht es kühl und schneidend um die erhitzten Wangen und vor den Augen öffnet sich weithin, im bläulichen Schein der Nacht zum weißen Wunderland verklärt und grenzenlos verschwimmend, der Riesenkessel des Großen Plateaus, der gewaltigsten Schneemasse, welche die europäischen Alpen kennen. Weiß ringsumher, nichts als silbernes, träumerisches Weiß! Im Halbkreis, den Mond überragend, die schneeigen Riesen der Montblancgruppe, mit ihren gewaltigen firnüberrieselten Flanken, deren Lawinenströme sich unten im Grund der stundenweiten Mulde zu blendend leuchtenden Schneehügeln und -thälern einen, in glitzerndem Schuppenglanz dazwischen das Blinken der Gletscher, und vor dem Fuß des Wanderers die weite weiße Ebene, über der der Wind stöhnend und zwecklos wie ein Wolf im Winterwald hin und her streicht.

Hier oben begann sein ewiges Reich. Hier gab es keine Ruhe mehr. Die Luftwellen kamen und gingen, sie wanderten von Frankreich nach Italien, sie fluteten zurück und umstrudelten das weiße Greisenhaupt des Montblanc in ihrem heulenden Spiel, wie die See unermüdlich um die Klippe brandet. Im Kessel des Plateaus freilich war ihre Kraft schon an den Schneemauern des Umkreises zerschellt und äußerte sich nur noch in zornigem Gellen und Pfeifen. Aber weiter oben, hinter jener unsichtbaren Höhenscharte, die Frankreich von Italien, den eigentlichen Montblanc von seinem sanfteren Nachbar zur Rechten, dem Dome du Gouter, trennt, da erhob es sich zuweilen in rollendem, unheilverkündendem Donner wie die Stimme eines Riesen, der die Zwerge des Thales warnt, sein Eis- und Nebelheim über den Wolken zu betreten.

Ein langer schwarzer Strich, zog sich vom Lagerplatz in der Mitte der Schneefläche die Fußspur an der Flanke des Dom du Gouter hin. Er folgte ihr weiter und warf, alter Gewohnheit folgend, einen prüfenden Blick zu den weißgetürmten Massen hinauf. Von dort kamen nachmittags die Lawinen. Da pflegte man sich in glühendem Sonnenbrand und fußtief zu Brei erweichtem Schnee in fliegender Eile durchzuhetzen, wenn oben wieder das verräterische Krachen und Rieseln begann und in stäubenden Schneebächen der Tod zu Thal fuhr.

Aber damit hatte es jetzt keine Gefahr. Die Berge schliefen. Der Mond schwamm still am Himmel – alles träumte, bis auf den ewig rastlosen Gesellen im Reich des Schweigens, den Höhensturm.

Der wurde jetzt stärker und stärker. Eisig lachend fuhr er dem Wanderer entgegen, der sich langsam an der Bergflanke emporarbeitete. Er raubte ihm den Atem und erquickte ihn doch zugleich. Denn sein stählender Hauch verscheuchte die seltsame Beklemmung, die fast jeden unten bei der stundenlangen Wanderung in der windgeschützten riesigen Schneemulde umfängt.

Die Stickluft legte sich wie ein Druck des Todes um die Brust. Im Föhn aber war Leben und Kraft. Hier spielte er noch, wie er mit seinen rauschenden Schwingen den Firnstaub vor sich hintanzen ließ; aber weiter oben, in der Scharte, zeigte er schon sein wahres Gesicht voll Furchtbarkeit, das der immer wütender rollende Donner in der Ferne ahnen ließ.

Es wurde in seinem Wehen plötzlich ganz schneidend kalt. Die Luftwärme bei dem vor wenigen Stunden verlassenen Touristenhaus erschien jetzt wie eine laue italienische Nacht gegenüber diesem durch alle Hüllen kriechenden, alle Fibern erstarrenden Frost. Und auch die Luft selbst veränderte sich. Sie wurde merklich dünner. Die Brust mußte sich hoch wölben, um sie genügend einzuschlürfen, begierig, wie ein Wanderer frisches Quellwasser trinkt, und bekam doch, wenn unversehens ein Windstoß dazwischen fuhr, nicht genug von dem Lebensstoff. Dann stockte der Kreislauf des Körpers. Es war nicht mehr möglich, einen Schritt weiter aufwärts zu thun. Man mußte stehen bleiben, einen neuen Atemzug schöpfen und dann wieder eine Stufe höher steigen. Und wieder ein Atemzug, wieder ein Schritt – und immer weiter, der Scharte zu, auf der sich, als Zufluchtsort in dem gefürchteten Schneesturm, auf einer aus dem Firn starrenden Klippe wie ein mittelalterliches Raubnest hoch hingebaut, die kleine Vallot-Hütte erhob.

Er eilte sich, sie zu erreichen. Denn der Mond sank tiefer und tiefer hinter den silberverklärten Gipfeln. Wenn er schwand, trat volles Dunkel ein, denn das Morgengrauen war noch fern.

Da stand er auf der Höhe des Firnsattels zwischen Dom und Monarch, aufschauernd wie in einem eisigen Bade, so grimmig erkältend brausten die Wirbelwellen des Südsturms um ihn her. Er lief mehr als er ging, über den im Druck der Nägelschuhe stöhnenden Firn, die Eisaxt hochgehoben, mit der Linken Augen und Gesicht gegen die herangeschleuderten Luftmassen schützend. Er wußte: die Thüre der Schutzhütte stand jederzeit offen und fiel hinter jedem von selbst wieder ins Schloß. Nicht ohne Mühe schwenkte er den schweren Holzflügel in den Angeln und trat zähneklappernd ein.

Kaum hatte er den Fensterladen aufgehakt und sich auf der nächsten Holzpritsche, die seine Hand im Halbdunkel berührte, lang hingeworfen, da erlosch hinter dem Fenster draußen das letzte Dämmerlicht. Der Mond war untergegangen, die volle Finsternis da.

Wie er so dalag, stumm und starr, in Grabeskälte und rabenschwarzer Nacht, da kam ihm plötzlich der Gedanke, ob er nicht schon gestorben sei. Vielleicht war das der Sarg. Die Hölle. Irgend ein Ort, der nichts mehr mit der Erde gemein hatte.

Auf irgend einem erkalteten Planeten, in den Bergschlünden des Mondes – da mochte es so zugehen. Auf einer dieser Lehmkugeln, die abgestorben, zwecklos durch den Weltraum wirbeln, ein Tummelplatz unsichtbarer, in Sturmgewand gekleideter Luftgeister und ihrer nächtigen Spiele.

Er erhob sich, tappte im Dunkeln, mit dem Fuß an einer vergletscherten Ecke des Raumes ausglitschend, nach dem kleinen Fensterrahmen und preßte sein Gesicht daran. Aber nicht einmal die Sterne waren zu sehen. So dicht hatte sofort eine Eisschicht von außen die Scheibe überkrustet.

Nur durch das Ohr stand der einsame Alpinist noch mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0870.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2022)