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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Draußen strömten, während der Sturm mit sich mindernder Heftigkeit die Eisluft erschütterte, immer neue Nebelmassen von der italienischen Seite herauf, ganze Wolkenzüge, die dampfend, dichtgeballt in raschem, lautlosem Fluge dahinstrichen wie eine endlose Herde seltsamer Zugvögel, die sich eilt, ein fernes Ziel zu erreichen. Im wachsenden Tageslicht wurden sie immer heller und durchsichtiger, und von oben her leuchteten schon die zitternden Frühstrahlen des auf den höchsten Gipfeln erwachenden Morgens hinein.

Franklin gähnte, lang ausgestreckt, und starrte zur Decke.

„Was machen die Nebel, Prinz?“ frug er stumpfsinnig. „Können wir nicht bald weiter?“

Ein Sturmstoß gab ihm die Antwort, der wie ein zorniges Aufbrüllen über die Wetterscharte hinfegte. Die Wolkenherde schwamm geängstigt und gescheucht vor ihm her und senkte sich in rascherem Flug auf der anderen Seite zum Plateau herab. Und in der grauenden Winterlandschaft, die sie enthüllte, lief wieder sichtbar geworden die schmale Stufenbahn auf der Schneide der Grandes Bosses du Dromadaire in die Höhe.

„Da geht^s hinauf!“ sagte der Prinz aufstehend und holte das Seil hervor. „Was wir nicht brauchen, lassen wir hier unten. Noch ’nen Schluck Wein! Sie müssen, Frau Angela! Sonst werden Sie am Ende schwindlig. Die Promenade ist ein bißchen luftig. Rechts nichts, links nichts, über sich nichts, nur unter sich das bißchen Eis … Sie müssen ganz langsam und beschaulich gehen – nie einen Fuß heben, ehe nicht der andere feststeht. Und wenn Sie doch ausgleiten, so thun Sie das bitte nicht schweigend, sondern sagen Sie es mir, wenn irgend möglich, beiläufig im Lauf des Gesprächs vorher, damit ich Sie rechtzeitig halten kann!“ Er that selbst einen kräftigen Schluck. „Brrr! ist das Zeug kalt!“ murmelte er, sich den roten Schnurrbart wischend. „Es könnte ebensogut Tinte sein wie Rheinwein! Na, nun los! Was haben Sie, Frau Angela?“

Die weiße Schleiergestalt antwortete nicht, sondern wies nur stumm mit der Hand in die Höhe. Da, wo ihre in unförmlichen Stulpen verhüllte Rechte hindeutete, klomm eine dunkle Erscheinung rüstig die letzten Tritte des schmalen Firnwegs empor. Elastisch von Stufe zu Stufe steigend, vom Sturm umbrandet und, auf die jenseits schräggestellte Eisaxt gestützt, sich weit zur Rechten über den Abgrund beugend, um im Anprall der Luftwellen das Gleichgewicht zu bewahren, ging der einsame Wanderer, nach gutem Gletscherbrauch frei aufgerichtet, fortwährend schwankend und doch unerschüttert, seinen Weg. Jetzt setzte er den Fuß in die letzte Eiskerbe, jetzt war er oben auf dem Dromedarhöcker und verschwand hinter den Schneehügeln, die sich darüber türmten.

Der Prinz nickte befriedigt. „Ein gutes Stück Arbeit!“ sagte er. „Allein auf den Montblanc! Und ohne Training. Dazu gehören Nerven. Hoffentlich holen wir ihn noch ein.“

„Ich glaub’s nicht!“ Der kleine Yankee schüttelte den Kopf. „Sehen Sie nur … da kommt er wieder heraus … wie er losstürmt. Es ist gerade, als ob er die dünne Luft gar nicht spürte.“

„Oder als ob er vor uns flüchtete.“ Der Hüne lachte grimmig. „Er will nichts mehr von Ihnen wissen, Frau Angela!“

Die weiße Frau zuckte die schmalen Schultern und sah dem Höhenwanderer nach, solange seine dort oben im Frührot scheinbar riesig wachsende Gestalt sichtbar blieb.

Der Yankee aber wurde ungeduldig. „Los!“ rief er. „Bringen Sie Ihre Schneeschleier in Ordnung, Frau Angela, der Wind geht scharf und die Sonne ist nahe. Wenn Sie sich wieder ganz als Berggespenst verkleidet haben, können wir aufbrechen!“

*      *      *

Die vermummten Menschen schritten über den Sattel dahin, der sich lässig in den Schultern wiegende Riese voraus, der Zwerg am Schluß und zwischen ihnen, gesenkten Kopfs, die stumme weiße Begleiterin. Der Wind hatte sich jetzt ziemlich gelegt. Nur vereinzelte Stöße umpfiffen noch die drei, während sie langsam, mit pedantischer Vorsicht die fußbreite, zu beiden Seiten von freier Luft begrenzte Firnschneide emporstiegen, erst mäßig steil, wie auf einer gutbürgerlichen Treppe, dann immer jäher hinauf wie auf einer im Winkel von etwa siebzig Grad an eine Wand gelehnten Leiter. Die Sprossen dieser Leiter, blankes, graublaues und mit einer dünnen Schicht von Firnkörnern bedecktes Eis, knirschten unter den Kopfnägeln ihrer Schuhsohlen. Die dünnen Eisenkettchen, welche die Schneegamaschen am Stiefel festhielten, klirrten leise dazu im Takt, und regelmäßig ging der schwere Atem der drei Bergsteiger, denen hier in der Anspannung des Augenblicks auf der luftigen Messerschneide keine Atemnot mehr die Brust beengte, obwohl sie sich jetzt schon in gleicher Höhe mit den trotzigsten und schwierigsten Gipfeln Europas, mit Monterosa, Dom und Matterhorn, befanden.

Plötzlich blieb der Prinz stehen, und die andern machten notgedrungen auch Halt. „Jetzt habe ich eine Idee!“ sagte er düster und blickte zur Seite nieder, wo in der Höhe seines linken Kniees ihm unter der weißen Gaze das leichenweiße Gesicht entgegenschimmerte. „Eine Idee, Frau Angela!“

Ein Sturmstoß erfaßte sie. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung und kam mit dem einen Fuß aus dem Gleichgewicht. Franklin Moore, dessen Brust sich gerade vor ihrem Bergschuh befand, packte rasch zu, drehte den Absatz herum und stellte ihn wieder richtig in die Stufe.

„Vorwärts, Prinz!“ schrie er durch den Wind an Angela vorbei in die Höhe. „Vorwärts, in drei Teufels Namen! Hier ist doch nicht der Ort, sich Geschichten zu erzählen!“

Aber wenn der Hüne einmal etwas im Kopf hatte, hätte man es ebensogut einem Bullen durch gütliches Zureden austreiben können wie ihm. Er regte keinen Fuß.

„Hier ist der Ort,“ verkündete er düster und schaute, auf seine Eisaxt gestützt, herab, „der Ort für meine Idee. Kurz und gut, Frau Angela – wollen Sie meine Frau werden?“

Die weiße Gestalt an seinem Knie sah schweigend zu ihm auf.

„Diese Frage ist an dieser Stelle und in dieser Höhe noch nie von einem Mann an ein Weib gerichtet worden,“ fuhr der Riese befriedigt fort und bog sich wie die andern blinzelnd weit über den schmalen Grat, um einem Anprall des Windes zu begegnen. „Sie ist durchaus neu! Also müssen Sie Ja sagen! Nein sagen können Sie nicht. Dieser glattrasierte Massenmörder aus Transvaal, den ich da hinter Ihnen am Seile schleppe, hat mich selbst gestern abend darauf aufmerksam gemacht, daß ich, wenn ich falle, Sie beide mit mir nehme … nach dem Gesetz der Schwere, Frau Angela!“

Die unter ihm blieb stumm. Aber unwillkürlich klammerte sie sich mit einer Hand an seinem Knie fest.

„Wenn Sie jetzt trotzdem Nein sagen, dann gerate ich in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Dann trete ich aus reinem Gram plötzlich links daneben …“

„Well!“ Franklin Moore lachte unten herzlich los. „Passen Sie auf, Frau Angela! Im selben Augenblick treten wir beide rechts daneben! Dann ist das Gleichgewicht wieder hergestellt. Die eine Hälfte der Partie hängt rechts in Italien, die andere links in Frankreich!“

„Lachen Sie nicht!“ gebot der Hüne zornig. „Die Sache ist ernst!“

Aber der Yankee faßte sie heiter auf. „Zwicken Sie ihn ein bißchen ins Bein, daß er weitergeht!“ riet er. „Es ist zwar eine sonderbare Antwort auf einen Heiratsantrag, aber wer Ort und Zeit so wunderlich wählt, darf sich nicht beklagen, wenn man auf seine Eigenart eingeht.“

„Frau Angela…“ begann der Recke von neuem. „Es giebt ein Unglück …“

„Es giebt kein Unglück!“ schrie der Yankee von unten fröhlich im Winde. „Keine Angst! Glauben Sie, dieser Koloß von Mensch hätte die Nerven, absichtlich fehlzutreten? Das kann ich nicht einmal! Das kann keiner von uns! Vorwärts, Frau Angela …“

Jetzt lachte es auch unter den Gazeschleiern leise auf. Der Prinz zuckte zusammen und machte ein wütendes Gesicht.

„Er hat eine Idee!“ sagte der Yankee trocken. „Zum ersten- und letztenmal in seinem Dasein. Das bekommt solchen Fossilien nicht. Wenn Sie ihn nicht zwicken wollen, Frau Angela, so setzen Sie einfach Ihren Fuß in seine Stufe. Für zwei Schuhe ist nicht Raum. Also muß er als Gentleman Ihnen Platz machen! Sehen Sie … es hilft. Da steigt er ganz artig weiter. Wie geht’s, Herr? Ist der Anfall vorüber?“

Aber der andere antwortete nicht, sondern klomm zornmütig in so raschen Schritten empor, daß ihn die beiden Genossen am

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 874. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0874.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2020)