Seite:Die Gartenlaube (1898) 0875.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Seil zurückhalten mußten. Er wandte sich nicht nach ihnen um, sondern zuckte nur mißmutig die Achseln, und seine langen Schnurrbartenden flatterten zu beiden Seiten des Kopfes in dem jetzt von der Höhe herabstürmenden eisigen Winde, der die Thränen in die Augen trieb und die Finger erstarrte.

Nun hatten sie diese Höhe erreicht. Vor ihnen lag, in immer neuen Schneehügeln und Firndächern sich übereinander wölbend, ein zerrissenes, wie von Riesenhand hingeschleudertes, weißes Chaos, das letzte Gebiet des Montblanc. Wo es endete, war nicht zu erkennen. Immer neue blendende Wälle, glitzernde Schluchten, spiegelnde Eisflächen tauchten hinter den erklommenen Punkten empor und erstreckten sich weiterhin in dem weißlichen Nebeldampf des Himmels.

Vorsichtig, auf den Eispickel und das linke Knie gestützt, den rechten Fuß tastend in dem Schnee abwärtsgeschoben, und mit dem ganzen Körpergewicht auf der Bergseite ruhend, schoben sie sich an der Flanke des zweiten, des „kleinen“ Dromedarhöckers hart unter dem Kamm an einer schmalen Schneewand hin, die sich wenige Fuß unter ihnen in das Unermeßliche verlor. Weitere Schwierigkeiten gab es jetzt bis zur Spitze nicht mehr. Ohne Gefahr suchte der geübte Fuß in der frosterstarrten Hügel- und Thälerwelt des breit sich auftürmenden Montblancrückens seinen Weg aufwärts, immer weiter aufwärts in der Kette von Eiswällen, die des Wanderers spottend rastlos neu vor ihm aus dem Firn zu wachsen schienen, wenn er sie eben erst keuchend überwunden.

Die Atemlosigkeit – das war das Schlimme! Es war keine Luft mehr, was die lechzenden Lungen einzogen, es war etwas eisig Dünnes, etwas, was die Brust zugleich leer ließ und erkältete. Etwas Feindseliges, das dem ganzen Leib die Spannkraft nahm. Die Muskeln begannen zu trotzen. Sie thaten nur noch widerwillig, zögernd ihre Pflicht, und immer häufiger mußten die Touristen, im Schnee liegend, rasten und warten, bis wieder etwas Luft im Brustkasten und Federstärke in den Beinen sich einstellte. Kampflustig sprangen sie dann auf. Aber nach wenigen Schritten war die bleierne Müdigkeit, das Lechzen nach Luft wieder da. Wieder mußte Halt gemacht werden, wieder hoben und senkten sich die breiten Rippen des Prinzen wie eine mächtig arbeitende Dampfmaschine, wieder zitterte es vor Ermattung unter den weißen Schleiern und trocknete sich der Yankee mit mephistophelischem Lächeln das aus Nase und Ohren tretende Blut – dann wieder ein Ruck am Seil – weiter – weiter! Sie wußten es ja: wenn die Muskeln sich noch so widerspenstig weigern, ihre Kraft herzugeben, so haben sie doch noch jeden, der wollen konnte, bis zum Ziel getragen.

Und da vor ihnen lief, über Schneehalden und Firndächer, zwischen Eistrümmern und frostigen Thälern die Fußspur ihres Vorgängers und zeigte ihnen den Weg, den er, der Einzelne, zäh und rastlos verfolgte. Ihn selbst bekamen die beiden Männer nicht mehr zu Gesicht. Sie konnten nicht so rasch empor wie er. Um Angelas willen. Zwischen ihnen schritt die weiße Gestalt schweratmend und schweigend den Höhen zu, auf denen der, dem sie folgte, frei aufgerichtet der Sonne entgegenging.


25.

Der da oben wandelte schon im Licht. Die dämmernden Sonnenwellen grüßten ihn mit ihrem schmeichelnd warmen Gold, und allgemach hob sich rings um ihn Europa aus der Nacht des Schlafes, aus Nebel und Grauen empor zum Morgenglanz.

Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Montblanc ……

Schon waren die Sterne oben am Firmament erloschen, dessen Aschfarbe immer mehr in einem unergründlichen schmelzenden Blaßblau verschwamm. Nur der Morgenstern funkelte noch trotzig nieder, ein goldenes Juwel, aus dessen Rändern in unruhigem Spiel die Lichtzacken schossen und zurückzuckten. Aber bald erstarb auch er, der Tag war Sieger.

Noch stand die Sonne tief im Osten, hinter dem Engadin. Aber es wurde hell von Oesterreich her, von Deutschland und der Schweiz. Hell wie in dem Chaos, von dem das Bibelwort spricht: „Und die Erde war wüst und leer!“ Ein unermeßliches Nebelmeer, soweit das Auge reicht – eine graue leblose Sündflut, wie wenn auf hoher See Windstille ein Schiff umfängt und die Nußschale still daliegt, über sich den Himmel, ringsum die ungeheure Weite.

Aber hier waren Inseln ringsumher! In trotzigen Zacken schoß es überall in der Runde aus dem wesenlosen Schweigen zum Licht empor, in wildgeformten, schneebeströmten Klippen und firnüberpuderten Wellenlinien, deren reines Weiß sich allmählich, der grauen Grämlichkeit der Thäler spottend, mit einem heiter lächelnden Rosenrot übergoß.

Die Sonne war nah’! Auf den höchsten Gipfeln Europas entzündete sie ihr Licht, auflodernde Strahlenbüschel, die der Hochwelt das Kommen der Gebieterin meldeten. Ueberall blitzte es auf. Es legte sich in glühenden Leisten von geschmolzenem Gold um die Schneekämme, es funkelte in grimmem Glanz von den Schultern der Eisriesen und krönte ihr ehrwürdiges weißes Haupt mit einem flammenden Diadem von Morgenrot, das, majestätisch von dem rasch in tieferes Blau sich färbenden Himmel abgehoben, seine Lichtströme hinab zu den Gletschern und Thälern rieseln ließ.

Ein Bergkoloß entzündete sich am andern. Zu Hunderten und aber Hunderten loderten rings in der Runde die Riesenfackeln des neuen Tages und schauten, über dem Nebelheim der Tiefen aufgereckt, das man Europa nennt, andächtig zu der in Feuerfluten vom Osten heranschwimmenden Gebieterin der Welt empor. Trotzig aufrecht, starre Gebieter, selbstbewußte Giganten, begrüßten die Berge das Einzige, was über ihnen ist, den Urquell alles Irdischen, den Born des Lichts und Lebens in ehrfurchtsvollem Schweigen. Der Sturm allein sprach für sie. Wie Donner wandelte sein Morgengebet über die ewigen Höhen, ein Preis des Himmels und der Erde, ein Loblied der Schöpfung am sechsten Tage, da es noch keine Menschen gab.

Jahrtausendelang war die Sonne über jenen Höhen aufgegangen und gesunken, ohne daß ein Menschenauge sie sah. Nun hatten sich dem einsamen Mann da oben die jungfräulichen Wunder enthüllt. Das Leben schritt mit ihm durch die wilde Einsamkeit über den Wolken, das warme, menschliche Leben – – höher, immer höher, dem letzten Ziele zu.

Tief war ringsum schon der Kranz der Berge gesunken. Von oben herab überschaute sein Blick jene vom Thal so gigantisch ragenden Gipfel, auf denen allen er selbst schon schweratmend und sturmgeschüttelt gestanden hatte. Der schmale Eiskamm der Jungfrau, der gedoppelte Firngrat des Matterhorns, des Doms schneeüberrieselte Felsenzacken, die tückisch überhängenden Schneerücken des Lyskamms, der eisglatte Zuckerhut der Dent Blanche, ja selbst das mächtig aus weißen Halden aufschießende, siebenfach gegipfelte Steingewölbe des Monterosa hatten sich vor dem Montblanc gebeugt. Und günstiger als die mühsame Bezwingung dieser Riesen durch glitschrige Schneerinnen, schmale Gesteinkanten und senkrechte Felskamine gestaltete sich diese luftige letzte Höhenwanderung über den Kamm des Montblanc. – Weiß ringsumher – ein blendendes, die Sonnenstrahlen zurückschleuderndes Weiß, das die Augen kaum zu ertragen vermögen – und über dem unbefleckten Hermelingewand des Bergkönigs die dräuend stahlblaue, beinahe blauschwarze Himmelswölbung, deren Verfinsterung auch das des Hochgebirgs gewohnte Auge immer wieder mit leisem Grauen schaut.

Von unten her tönte unsichtbarer Donner – langsam anschwellend und in undeutlichem Gemurmel verklingend. Die ersten Lawinen fielen vor dem Strahl der Morgensonne. In senkrecht die Bergwände durchfurchenden schnurgeraden Rillen glitten die Schneebäche in den Abgrund, der sie brüllend empfing. Seinem ungeschlachten Gruß antwortete es aus einem andern Thal wie das Poltern schwerer Lastwagen. Sonst tiefe Ruhe ringsum. Auch der Sturm war erstorben.

Der Firnkamm wurde schmaler und schmaler. Sanft ansteigend, ging er aus einem breitgewölbten Rücken allmählich in einen Fußpfad von Schnee über, auf dem man eben noch bequem und auf den Pickel sich stützend, durch die Pausen des Atemholens alle fünf Schritte zum Stehenbleiben gezwungen, emporklimmen konnte. Dann plötzlich wurde er wieder etwas breiter und öffnete sich auf ein beinahe ebenes, durch zum Thale überhängende Schneemassen trügerisch ausgedehntes Plateau, aus dem, ein dunkler, schräg im Schnee lastender Fremdkörper, das Bollwerk des Observatoriums Janssen, trotzig emporstarrte.

Tief aufatmend blieb der Wanderer stehen. Er war am Ziel. Vom höchsten Punkt Europas sah er, auf seine Eisaxt gestützt, einsam wie ein kreisender Adler, über die Welt und die Wolken

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0875.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2020)