Seite:Die Gartenlaube (1898) 0880.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Böse Zungen.

Novelle von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).
1.

An einem ziemlich heißen Augusttage, so gegen halb sieben Uhr abends, sagte die Frau Amtsgerichtsrat Braun in Grünau zu ihrem Gatten: „Mein Lieber, du willst ja nun wohl auch heute wieder ins Kasino, um da mit den anderen bei Wein und Kartenspiel die häuslichen Sorgen eurer armen Ehefrauen zu vergessen – wie du es leider jetzt schon seit sechsundzwanzig Jahren jeden zweiten Nachmittag treibst. Sei so gut und erinnere den Doktor Franz Hertel, wenn du ihn siehst, recht freundschaftlich daran, daß wir jeden Sonntagabend für unsere Freunde zu Hause sind und daß er sich zu rar macht. Ich hatte es dir schon längst sagen wollen, aber ich habe mir wieder einmal eingebildet, du dächtest von selber an etwas, das möglicherweise im Interesse deiner Familie liegt.“

Der Herr Amtsgerichtsrat, ein großer, wohlbeleibter Mann mit den Zügen eines im Krieg ergrauten Reiterobersten, blickte etwas unsicher nach seiner kleinen Frau hinüber und bemerkte höflich: „Gewiß, liebe Elfriede, ich werde es nicht vergessen. Ich würde es auch ohne Zweifel schon von selbst gethan haben; aber ich glaubte mich zu erinnern, daß du dich verschiedenemal über den Herrn Doktor Hertel sehr ungünstig ausgesprochen hast.“

„Wenn ich das gethan habe,“ erwiderte seine Gattin mit ruhiger Schärfe, „so werde ich meine Gründe gehabt haben. Du weißt, ich habe es gottlob noch nie nötig gehabt, mein Urteil über einen Menschen zu ändern. Der junge Mann ist Dichter, und ich halte das Dichten ganz allgemein für einen verfehlten Beruf. Das schließt aber nicht aus, daß er auch seine guten Seiten hat; als Ehemann würde er sich vielleicht besser in seine Stellung zu finden wissen als mancher andere; ein hübsches Vermögen hatte er schon, ehe seine Tante Adele ihm das große Haus am Michaelismarkt vermachte, was mich eigentlich noch immer wundert, denn sie war sonst eine ziemlich vernünftige Person, und wir waren ja doch auch noch von meiner Großmutter her mit ihr verwandt; ich verstehe nicht, wie sie das so völlig vergessen konnte, solltest du sie einmal vor den Kopf gestoßen haben? Männer wissen ja nie, was sie sagen. Du solltest dich wirklich einmal etwas zusammennehmen, Albrecht! Am Ende ist ja auch ein Dichter, wenn er Vermögen hat, etwas ganz Respektables. Und es war mir anfangs schon, als ob sie sich für einander interessierten. Du weißt, wie unsere Helene immer für Poesie war, sie hat sich auch seine Romane aus der Leihbibliothek geholt, ich finde, das gute Kind sorgt unbewußt mehr für sich als sein Vater mit klarem Bewußtsein. Nun, du weißt jetzt, wie ich über die Sache denke.“

„Gewiß, liebe Elfriede,“ sagte der Gatte und griff nach seinem Hut. „Hast du mir sonst noch etwas aufzutragen?“

„Nein,“ anwortete sie und reichte ihm den Spazierstock. „Du kannst gehen. Ich hoffe, daß du um Neun wieder hier bist.“

Während man so in der Wohnstube des Amtsgerichtsrats für die Zukunft des Dichters sorgte, schlenderte dieser im Grünauer Stadtwalde umher, ganz der Gegenwart hingegeben. Er sammelte Blumen und Gräser zu einem hübschen kleinen Strauße: goldgelbe, blaßrote und violette Blumen mit nickenden, federnden Waldgräsern. Dabei dachte er so wenig an Fräulein Helene Braun wie an irgend ein anderes der vielen jungen Fräulein, die einen so hübschen Strauß aus den Händen eines so stattlichen Mannes mit so sprechenden braunen Augen – und sogar dem Schatten eines Lorbeerkranzes auf der hohen Stirne – verheißungsvoll errötend angenommen hätten. Die Liebe hatte durchaus keinen Anteil an dieser sinnigen Beschäftigung, die er seit den Knabenjahren mit gleicher Neigung und wachsendem Geschmack übte. Wie es die Minnesänger des Mittelalters so gern von sich erzählen, konnte er Stunden damit verbringen, irgendwo im Walde „den lieben Vögelein“ traumhaft zu lauschen und dazu „Blumen weiß, gelb, rot und blau zu brechen“. Er unterbrach diese Beschäftigung niemals, um irgend ein über dem Blumenbrechen so ganz von selber fertig gewordenes Gedicht niederzuschreiben, ja er führte nicht einmal das in veilchenblauen Sammet gebundene Notizbuch mit silbernem Bleistift und der Aufschrift „Poesie“ bei sich, ohne welches sich gewisse Spötter einen deutschen Dichter im Walde nicht zu denken vermögen. Immerhin ist anzunehmen, daß er unbewußt von seinen Blumen und Sträußen manch gute Eingebung bekam und auch mehr für seinen poetischen Stil von ihnen lernte, als sich aus Büchern lernen läßt; denn die Gesetze der Harmonie sind dieselben im Reiche der Farben, der Düfte wie der Töne und Worte, und wer zum Beispiel eine wilde Rose, eine Mohnblume und ein Gänseblümchen zu einem Strauße zusammenstellt, ohne vor sich selber zu erschrecken, von dem kann man auch als Dichter nur Schreckliches erwarten. Man erkennt den Menschen an seinen Sträußen! Auf großartige Symphonien von Blumen und Farben ging Franz Hertel nicht aus, aber was er sich von seinen nachmittägigen Waldgängen heimbrachte, das paßte zusammen, es wirkte durchs Auge erfrischend und beruhigend auf die Seele wie ein reiner Accord oder ein wahres, schlichtes Wort, und so sprach auch aus seinen Erzählungen und Gedichten eine heitere, schlichte Schönheit, welcher sturmgeprüfte reife Leser nur zuweilen etwas schärfere Linien – einige Dornen zwischen den Blumen gewünscht hätten. Er besaß schon damals einen gewissen Ruhm, der nicht hell aufloderte, aber um seine ruhige Flamme einen mäßig großen, um so treueren Kreis von Verehrern sammelte, und er trug ihn mit einer bequemen Gelassenheit, die den Grundzug seines Wesens bildete.

Uebrigens war er in der Grünauer Gesellschaft noch eine neue und kaum bekannte Erscheinung. Vor einigen Monaten hatte er die Stadt seit seinen Kinderjahren zuerst wieder besucht, um die unvermutete Erbschaft anzutreten, deren wichtigster Teil in einem weitläufigen, an verschiedene Parteien vermieteten Patricierhause bestand. Die anmutige Lage der Stadt, der unmoderne Zuschnitt des kleinstädtischen Lebens und sogar die altfränkische Ausstattung der ererbten Wohnung boten dem jungen Dichter nach den Aufregungen eines großstädtischen Winters und Frühlings eine wohlthuende Abwechslung; er verschob die Abreise, bis er sich schließlich ganz heimisch machte und von den Honoratioren schon fast als neuer Mitbürger behandelt wurde. Als behäbiger Einsiedler, ohne leidenschaftliche Anregungen – denn sein Interesse an Helene Braun und einigen anderen Musen und Grazien von Grünau war von Leidenschaft weit entfernt – drohte er schon ein klein wenig anzuphilistern, trotz der poetischen Sträußchen, die er sich von jedem seiner Waldgänge mitbrachte. Aber so leichten Kaufs wollte die Poesie ihren treuen Ritter doch nicht verlieren, und als sie merkte, daß er schon so weit war, der Frau Amtsgerichtsrat als eine solide Partie zu erscheinen, da griff sie ein und warf ihm ein Abenteuer in den Weg.

Der Ort dieses Abenteuers war das Brezelgäßchen, ein schlechtgepflasterter Durchgang, knapp einen Wagen breit, der den bescheidenen Ansprüchen früherer Geschlechter als Verbindung zweier Hauptstraßen genügt hatte, nun aber längst zu gunsten eines neuen, geräumigen Durchschnitts außer Dienst gestellt war. Von romantischer Architektur und dergleichen hatte das Brezelgäßchen gar nichts aufzuweisen: auf der einen Seite reihten sich ziemlich unsaubere Hinterhäuser in langweiliger Einförmigkeit aneinander, und gegenüber diesen Wohnungen der Armut zog sich ebenso einförmig die Mauer eines jetzt als Bleiche benutzten ehemaligen Klosterkirchhofs hin, ungefähr in der Mitte des Gäßchens unterbrochen von einem breiten, verrosteten Gitterthor, das von zwei kleinen einstöckigen Wärterhäuschen bewacht wurde. Selbst der Dichterblick Franz Hertels hatte bisher in dem Gäßchen nichts Anmutiges noch Anregendes entdecken können; auch benutzte der Doktor es nur seit einigen Tagen, weil die neuere Parallelstraße zwecks irgend einer Röhrenlegung aufgerissen war. Als er aber an diesem Abend nichts ahnend an dem ersten Wärterhäuschen vorübergeschritten war, löste sich aus dem schon dunklen Pförtchen des zweiten eine schlanke, dunkel gekleidete Mädchengestalt ab. Franz blickte in ein errötendes schönes Gesicht, aus dem ihm unter goldblondem Stirnhaar große blaue Augen bittend entgegenschauten, und eine überaus wohlklingende Stimme sagte leise: „Sie verzeihen, mein Herr … Ich sehe Sie schon seit drei Tagen jeden Abend mit einem frischen Waldblumenstrauß hier vorübergehen ... Möchten Sie mir wohl diesen kleinen Strauß da überlassen?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 880. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0880.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2020)