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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

wollten. Darf man denn wissen, wie es heißen soll? Es wird wohl ein Lustspiel?“

„Doch nicht, mein Fräulein,“ erwiderte Franz Hertel artig. „Es wird ein bürgerliches Trauerspiel, und der Titel soll heißen: ,Ueble Nachrede!‘“


7.

Franz Hertel meinte es vollkommen ernst: ein unendlicher Zorn und Widerwillen gegen das ganze Unwesen kleinlicher, gedankenloser Klatschsucht hatte sich seiner bemächtigt, und sogleich war er entschlossen, dies Gefühl in einem großen Werke zu entladen, kraft der Gewalt, die dem Dichter ward, „zu sagen was er leidet“ und ganz besonders was ihn ärgert.

Zwei oder drei Wochen verschwendete er darauf, eingeschlossen in sein Arbeitszimmer, fast ganz ohne geselligen Verkehr, über diesem Werke zu brüten, das in Wahrheit seinem heiteren und gesunden Wesen so durchaus fern lag. Ein großes dramatisches Strafgericht sollte es werden; ein zweites „Kabale und Liebe“, nur daß hier die Kabale nicht von schurkischen Großen und ihren Helfershelfern, vielmehr von gutbürgerlichen Klatschbasen beiderlei Geschlechtes, gebildeten und ungebildeten, jungen und alten, gesponnen ward. In den grellsten Farben wollte er schildern, wie das Glück harmloser Menschen, der Friede frommer Familien durch gedankenlose Neugier und Neuigkeitssucht Unberufener, durch pharisäische Splitterrichterei und Wohlweisheit zernagt wird und wie an der Unzerstörbarkeit dieses gesellschaftlichen Giftes selbst die tragische Gerechtigkeit scheitert: denn „noch an der Bahre des gedankenlos hingeschlachteten Opfers späht die blöde Klatschsucht vornehmer und geringer Pharisäer ungestraft und ungerührt schon nach neuen aus, und sie findet immer neue.“

Solcher Kraftstellen hatte er schon eine ziemliche Menge auf Vorrat gearbeitet, frostig und trostlos wie das graue Herbstwetter, das mit Regenschauern und Hagelschlacken an seine Fenster pochte. Aber glücklicherweise hielt er es nicht lange aus. Seine kräftige und lebensfrohe Künstlerseele empörte sich gegen eine Aufgabe, die so wenig zu ihr paßte, und nach einer kurzen Krisis genügte ihr ein kleiner Anlaß, um den ganzen widrigen Plan entschlossen umzustoßen.

Es war an einem Markttage: draußen auf dem Michaelisplatz drängte, stieß und vertrug sich die Menge der Verkäuferinnen und Käuferinnen, zum erstenmal nach vielen Tagen wieder einmal vom freundlichen Sonnenlichte bestrahlt, das den alten grünspanigen Kupferbelag des Michaelisturms in eine Malachitkuppel verwandelte und selbst die Regenlachen zwischen dem Pflaster drunten wie Lavaspiegel glänzen ließ. In einer dieser Lachen war eben ein ländliches Mädchen mit einem Korb Eier zu Fall gekommen, weinend stand das junge Ding da und blickte trostlos auf das schreckliche Ergebnis des Sturzes, während neben ihr ein Marktpolizist sich anschickte, ein Strafprotokoll wegen Störung des Straßenverkehrs wider sie aufzunehmen. Da drängte sich die unverkennbare Gestalt der Frau Schmitz durch die gaffende Menge, Franz Hertel sah, wie sie mit wirksamen Gesten auf die Leute einredete und zum Schluß ihrer Rede ein Geldstück in einen Teller warf, der, von ihr mit ermunternden Worten rundgereicht, sich rasch mit kleiner Münze füllte. Das Bauernmädchen strich getrösteten Antlitzes die milde Beisteuer ein, der Polizist lächelte versöhnt und zog mit seinem riesigen Notizbuch weiter, während ein paar Marktweiber in freiwilligem Wetteifer die Spuren des Unfalls beseitigten.

Und drüben auf der andern Seite des Platzes begegneten sich eben die Damen des Amtsgerichtsrats mit denen des Stadtphysikus, sie begrüßten sich liebevoll und plauderten lächelnd, dann trennten sie sich und blickten sich nach einigen Schritten um, mit jenem unerbittlichen Ausdruck, dessen nur eine eitle Dame fähig ist, wenn sie die Straßentoilette einer anderen verstohlen mustert; da aber beide Parteien bemerkten, daß sie sich zugleich umgesehen hatten, lächelten sie auch gleichzeitig und winkten sich liebevoll zu; es war unglaublich, wie rasch und gleichmäßig sich die Mienen änderten.

Franz Hertel beobachtete auch dies, und es fiel ihm auf einmal wie eine schwere schwarze Binde von den Augen. „Ach,“ rief er, „mit was für Dummheiten habe ich mich da abgequält! Die Leute sind ja gar nicht so schlimm. Der Klatsch gehört zu ihrem Wesen, aber er ist nur eine einzelne Aeußerung dieses Wesens, und es giebt hundert bessere und stärkere. Dieses Hökerweib, das die Moral anderer Leute danach abmißt, ob sein Junge das Trinkgeld vernascht oder der Mutter bringt, findet und thut doch, wo es werkthätige Hilfe gilt, das Moralische so gut und besser als mancher Professor der Philosophie. Diese Freundinnen, die sich gegenseitig nicht einmal einen neuen Hut gönnen und ihre Kinder durch tägliches Beispiel zum Schmähen und zur Lieblosigkeit abrichten, würden doch für ihre Kinder ihr Herzblut geben, und sie können sich über den wüstesten Klatsch doch noch nicht so herzlich freuen, wie sie sich freuen, wenn dem Gatten das Leibgericht einmal so richtig mundet. Sie haben alle ihr Bündel Sorgen am Halse, es ist ihr Schade, wenn sie’s sich mit Hilfe einiger Selbstgerechtigkeit leichter zu machen glauben; aber darum sind sie noch keine Ungeheuer.“

Die dicke Frau Schmitz hatte es sich unten auf dem Markte zum Elfuhrfrühstück bequem gemacht; sie saß auf einem umgestülpten Marktkorbe, hielt eine ungeheuere Kaffeetasse und einen Quadratfuß Bauernweck in den Händen und erzählte einigen Kolleginnen, zwischen Kauen und Schlürfen, eine ersichtlich sehr wirkungsvolle Geschichte, wobei sie öfters nach dem Hause des Dichters hinwinkte. Vermutlich schilderte sie seinen verderblichen Einfluß auf ihren Jungen. Franz Hertel nickte ihr freundschaftlich zu. Und da er einmal im Zuge war, so überlegte er weiter:

„Ist es denn auch wahr, daß die Leute mit ihrem Klatsch und ihrer Selbstgerechtigkeit anderen ehrlichen Leuten so gar entsetzlich mitspielen können? Daß eine bloße falsche Nachrede einen tüchtigen, wahrhaftigen Menschen zur Verzweiflung bringen oder gar das mit Liebe und Achtung verankerte Fundament eines ganzen Familienglücks sprengen kann? Gelesen habe ich es wohl schon ein paarmal, aber wo habe ich es denn schon erlebt? Und nun hätte ich beinahe gethan, als ob es die alltäglichste Geschichte wäre. Immer dieselbe Dummheit, die ganze Welt für verseucht zu erklären, weil man selber einmal thörichterweise an irgend einem Sümpflein geschlafen und sich ein winziges Fieberchen geholt hat. Wahrhaftig, wer hat denn bei der ganzen lächerlichen Geschichte Schaden genommen? Sie, die ich durch meine Albernheit mit in das Geklatsch von ein paar alten und jungen Weibern gebracht habe, lächelt in diesem Augenblicke vermutlich nur über Sottisen, die von einer reinen Seele machtlos abgleiten wie die Wassertropfen vom Schwanenkleid. Ich müßte ihr süßes Gesicht nicht gesehen haben, um zu glauben, daß sie über diese Leute etwas anderes thun kann als lächeln – und allenfalls auch über mich. Und mir können sie erst recht nichts an. Kinder, die mit Sandklümpchen nach dem Vogel in der Luft werfen! Der Vogel fliegt weiter und freut sich, daß er fliegen kann, und mit dem Sand treffen sie sich gegenseitig. Darauf läuft’s doch am Ende hinaus: die Klatscherei wendet sich wider ihren eigenen Herrn, wie alle Unwahrhaftigkeit, und der Entronnene behält etwas zum Lachen für die Zukunft. Wer weiß, ob ich meine schöne Florentinerin nicht einmal an einem würdigeren Orte treffe? Dann haben wir gleich etwas zusammen zu lachen, und das ist die bequemste Art, Bekanntschaft zu erneuern. Am Ende stiften die bösen Zungen noch Gutes, nur nicht für sich. Das ist aber doch zum Kuckuck keine Tragödie! Eine Komödie ist es, und eine Komödie soll’s auch werden! – Die aber schreiben wir anderswo als in Grünau!“

Nach diesem Selbstgespräch vertiefte Franz Hertel sich in das Reichskursbuch. Und am Abend saß er im Eisenbahnwagen und fuhr gen Süden, den Schwalben nach.

Die sämtlichen Entwürfe und Notizen zu seinem Trauerspiel hatte er vor seiner Abreise verbrannt, als ein Brand- und Dankopfer für das wiedererlangte Gleichmaß seiner Seele. Einige andere Andenken an sein Grünauer Abenteuer: die beiden unbestellten Sträußchen – zierlich getrocknet –, das Billet mit der Zeile von ihrer Hand und das gleichfalls unbestellte Gedicht an die schöne Namenlose nahm er sorgsam mit.


8.

Theaterbesucher und besonders Theaterdirektoren erinnern sich noch mit Vergnügen des Erfolgs, den das Lustspiel „Ueble Nachrede“ von Franz Hertel auf seinem ersten Rundzug über die deutschen Bühnen erzielte. Das arme Publikum, so lange mit mißlungenen Experimenten aller Art gequält, war entzückt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 887. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0887.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2023)