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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

nicht mehr als eben nur ein Wort. Als mein Vater jenen tödlichen Sturz auf der Rennbahn that, war ich ja noch ein halbes Kind. Sein Tod hatte keinen Schmerz für mich, nur einen Schreck, den ich fühlte und doch nur halb verstand. Und dieser scheue Schreck verwandelte sich in ein Gefühl unheimlicher Bangigkeit, als ich eines Abends einen unserer Gäste, der die Nähe des zwölfjährigen Knaben nicht beachtete, zu einem anderen sagen hörte: ‚Der gute Ettingen hat sich den Hals recht à propos gebrochen, sonst hätte er noch seinen Namen und seinen Besitz, seine Frau und seinen Jungen in den Sumpf geritten!‘ Damals verstand ich dieses böse Wort nicht, es machte mich nur zittern und that mir weh – aber es brachte das eine Gute, daß ich mich noch zärtlicher und inniger an die Mutter anschloß, wie in der Ahnung, daß meine Liebe ihr Herz vor irgend einem herben Leid zu beschützen hätte. Später, freilich, hab’ ich von boshaften oder auch nur von dumm geschwätzigen Zungen den Kommentar jenes Wortes reichlich genug empfangen, um den stillen ernsten Blick meiner Mutter zu verstehen, ihre Liebe zur Einsamkeit, ihre Furcht vor Stadt und Menschen. Weiß Gott, lieber Freund, ich habe keine Anlage zu falscher Sentimentalität – aber es geht mir warm durch das Herz, wenn ich mir sage: ich habe meiner Mutter, so lange sie lebte, keine Enttäuschung und keinen Schmerz bereitet. Sie konnte lächelnd die Augen schließen und sterbend glauben, daß sie in ihrem Sohn ein tadelloses und wohlgebautes Werk ihrer Liebe und ihres Lebens hinterließe.

Und nun? Wie steht es vor Dir, dieses Werk meiner Mutter? In meiner Seele sieht es aus wie in den löcherigen Taschen eines Bettlers, und ich weiß nicht mehr, was ich für mein halbverzehrtes Leben noch glauben und hoffen soll. Ich hätte leben sollen als meiner Mutter Sohn und hab’s meinem Vater nachgethan. Gar übel hat mich bei diesem Rennen um das vermeinte Glück das zügellose Tier meiner Leidenschaft in den Sand geworfen! Sand – wie höflich das Wort gewählt ist! Wohl habe ich mich leidlich wieder aufgerichtet und den schlimmsten Schmutz von mir abgeschüttelt, aber ich spüre den Sturz an Leib und Seele! Und da konnt’ ich vor einer halben Stunde noch schreiben: ich bin genesen, ich fühle mich frei. Nein! Ich bin es nicht! Sonst hätt’ ich Dir nach diesem einen Wort ein anderes nicht mehr zu sagen gehabt. Oder bin ich es doch? Und weiß ich nur die quälende Stimmung dieses Augenblicks nicht klar zu erkennen? Was mich jählings mit so brennender Unruhe drückt – ist es vielleicht doch eine letzte Kette, die mich noch fesselt an das Vergangene? Es könnte auch das Grauen sein – vor der Leere und dem Unwert meines kommenden Lebens! Eine reuevolle, heiße Sehnsucht, die mit ausgestreckten Armen begehrt und dennoch weiß, daß sie unstillbar ist! Die Erkenntnis, daß jenes lautere, schöne Glück, das ich gefunden wähnte, mir verloren ist für immer! Heiliges Glück … das ist ein Finden auf reinem Weg! Wer durch Sumpf gewatet ist, darf keinen Tempel mehr betreten!

Ein böser Gedanke! Der hätte mir nicht kommen sollen! Aber ich will’s versuchen, ihn wieder aus mir hinauszustoßen, mit Gewalt – und will schon zufrieden sein, nur weil ich einsam bin, stadtferne und mir selbst gegeben. Und wie häßlich auch das Leben ist, dem ich entfloh und das mich erwartet – schön ist doch die sommerduftende Stille, in der ich hier atme; schön ist die Nacht, die da draußen mit großen, zitternden Sternen leuchtet; schön ist das tiefblaue Rätsel des schlafenden Himmels und das graue Wunder der nachtverschleierten Berge!

Und hättest Du nur den Abend gesehen, der dieser Nacht voranging!

Aber solche Schönheit läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten sagen! Und wie sicher vor allen bösen Gedanken, wie ruhig war ich, als ich so einsam da draußen unter den stillen, alten, himmelstrebenden Bäumen saß!“

Da stockte dem Schreibenden die Feder. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und blickte nach dem offenen Fenster, in dessen Rahmen sich der schwarzgezahnte Wipfelkamm des nahen Waldsaumes und darüber ein Stücklein des stahlblauen Himmels mit zwei funkelnden Sternen zeigte.

So saß er eine Weile, dann schüttelte er unter leisem Lächeln den Kopf – und begann wieder zu schreiben:

„Jetzt fühl’ ich auch: die schöne Ruhe, die ich da draußen gefunden habe, überkommt mich wieder! Ein Trost für die Nacht … ich glaube, daß ich schlafen werde!

Und nun Adieu, lieber Goni! Wüßt’ ich nicht, daß Du in der Stadt bleibst, um als Freund für mich zu handeln, so würd’ ich Dir schreiben: komm’ und laß uns die Schönheit teilen, die mich hier umgiebt! Aber ich hoffe doch, daß dieser unbehagliche Freundschaftsdienst Dich nicht allzulange zurückhalten wird und daß ich Dich bald in meinem schönen Bergtuskulum, das ich Dir verdanke, begrüßen kann. Mit diesem Herzenswunsch bin ich Dein
 dankbar getreuer Heinz Ettingen.“

Der Fürst couvertierte den Brief und schrieb die Adresse: „Graf Egon von Sternfeldt – Wien.“ Er wollte dem Diener läuten, doch lächelnd nahm er den Brief noch einmal aus dem Couvert und schrieb mit rascher Feder: „Als Nachschrift eine Bitte. Ein Zufall hat mich heut’ an Arnold Böcklins Bild ‚Das Schweigen im Walde‘ erinnert – Du kennst wohl das Bild: auf dem Einhorn reitet die weiße Waldfee unter den Bäumen dahin, mit großen träumenden Märchenaugen, und lauschend, als hätte das tiefe Waldschweigen noch redende Stimmen, die kein Menschenohr vernimmt, nur sie allein. – Schon vor drei Jahren, als ich das Bild in einer Ausstellung sah, hätt’ ich es gerne gekauft. Aber es hatte schon seinen glücklichen Besitzer. Wie schade! Nun sind Erinnerung und Wunsch in mir wieder wach geworden. Aber wer einen solchen Schatz besitzt, überläßt ihn keinem anderen, und ich werde mich mit einer Reproduktion begnügen müssen. Willst Du mir die besorgen? Einen Stich oder eine Radierung. Willst Du? Ja? Und meinen Dank im voraus.      Heinz.“

Der Fürst siegelte den Brief und läutete dem Diener, dann trat er ans offene Fenster.

Drunten in der Sennhütte ging es lustig her. Der Wein schien in den Köpfen der Jäger seine Wirkung zu üben, und ihre sangesfröhliche Stimmung hatte sich in wirres Kreischen und Lachen aufgelöst. Das schwieg zuweilen, als wären die Lacher für einige Augenblicke dieses lauten Lärmens müde geworden. Dann klang’s wieder auf – und der Uebermut dieser konfusen Stimmen hörte sich seltsam an in der schwarzen, schweigenden Einsamkeit der Bergnacht.

Der Lakai trat in das Zimmer. „Durchlaucht befehlen?“

„Dort liegt ein Brief. Hast du dich schon erkundigt, wie die Post besorgt wird?“

„Die Leutascher Jäger sind noch hier. Einer von ihnen wird den Brief zur Besorgung übernehmen. Von morgen an wird ein regelmäßiger Postdienst eingerichtet.“

Der Fürst nickte und ging zur Thür des Schlafzimmers; als ihm der Lakai folgen wollte, sagte er: „Ich danke, Martin. Geh nur, ich brauche dich nicht mehr.“

Von der Sennhütte klang eine Lachsalve herauf, so toll und lärmend, daß der Fürst aufblickte.

Martin runzelte unmutig die Stirne. „Ich werde die Leute sofort zur Ruhe verweisen und für die strengste Stille sorgen …“

„Nein, nein! Laß sie nur! Sie sollen sich amüsieren, solang’ es ihnen Freude macht. Ich werde deshalb nicht schlechter schlafen. Adieu, Martin! Morgen früh sieben Uhr das Bad. Und für neun Uhr hab’ ich den Förster zum Frühstück gebeten. Gute Nacht!“

Der Fürst trat in das Schlafzimmer und zog hinter sich die Thür zu.

Martin schloß die beiden Fenster; dann glitt er lautlos, als ob er die Sohlen einer Katze hätte, auf den Schreibtisch zu. Er nahm den Brief, las die Adresse und lächelte. Vorsichtig, um das Siegel nicht zu verletzen, drückte er den Brief an den Kanten zusammen, so daß sich die Klappe des Couverts ein wenig ausbauchte. Da konnte er nun ein paar Worte deutlich lesen: „… heut’ an Arnold Böcklins Bild ‚Das Schweigen im Walde‘ erinnert – Du kennst wohl das Bild: auf dem Einhorn reitet ...“

Beruhigt schob Martin den Brief in die Brusttasche seines Fracks und löschte auf dem Schreibtisch die Lampe aus.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0014.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)