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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Viel weniger bekannt, weil fast ganz abgelegen von der alten wie der modernen Völkerwanderungsstraße, ist das Deutschtum an den piemontesischen Südhängen des Monte Rosa.

Der gewaltige Gebirgsstock des Monte Rosa erhebt sich am Ostende der Penninischen Alpen als Grenzwall zwischen dem schweizerischen Wallis und den italienischen Provinzen Turin und Novara und bildet wie sein am Westende stehender Rival, der nur um 172 Meter höhere Montblanc, der „Monarch der Berge“, die Wasserscheide zwischen Rhone und Po. Er ist nicht ein Gipfel, sondern eine Gruppe von solchen, und verschiedene mächtige Gletscher gleiten von seinen Flanken in die Thäler hinab.


Ein „Stadel“.


Eine Hauptgletschermasse ist die gegen Italien abfallende, die als Mittelpunkt den Lyskamm hat, es ist der Lysgletscher. Aus ihm geht der Fluß Lesa oder Lys hervor, der sich ein langes Thal, das Thal von Gressoney, ausgearbeitet hat, das mit seinem Fluß zusammen in das herrliche Aostathal einmündet.

Hier wird der Lys bei Pont Saint-Martin von der dem Monte Bianco entstammenden wilden Dora Baltea in die Arme genommen.

Dieses Gressoneythal nun, auch Vallesa genannt, hegt, wie seine Nachbarthäler, Gemeinden, in denen sich deutsche Sprache und Sitte zum Teil noch erhalten haben. Es sind das Allagna oder Alagna, Rima S. Giuseppe, Macugnaga, Rimella, Gaby, Issime, Gressoney St.-Jean und Gressoney la Trinité mit verschiedenen kleinen Anhängen.

In dem Gressoneythale, einem echten rechten Hirtenthale, habe ich stille glückliche Sommerwochen verlebt und von dem, was ich an Deutschtum mit den Alpenblumen zusammen botanisierte, sei hier ein weniges erzählt.


Wohnhaus in Gressoney la Trinité.


Mein Standquartier hatte ich anfangs in Pont Saint-Martin, Martinsbruck würden wir’s auf deutsch nennen, einem armen kleinen aber reizend gelegenen Städtchen am Eingang ins Val d’Aosta. Den Namen hat das Städtchen von einer kühnen Brücke über den Lys, die sich auf den ersten Blick als ein tüchtiges Römerwerk aus vorchristlicher Zeit erweist. Gewiß ist, daß über sie die einst zur Bekämpfung der Salasser gezogene Römerstraße führte. Die Römer saßen auch in diesem „äußersten Winkel Italiens“, von dessen Urbewohnern eines schönen Tages 36 000 als Sklaven zum besten der römischen Staatskasse verkauft wurden. Römische Steinwerke sind durchs ganze Thal bis hinauf auf den St. Bernhard zerstreut, und Spuren lateinischer Sprache findet man im Munde der Bergbewohner, während das mittelalterliche Französisch und der originelle piemontesische Dialekt im ganzen Thal und den es umschränkenden Bergen um die Hegemonie kämpfen.

Der Bergbewohner sagt hier noch heute oulla, der Topf, lateinisch olla, der doch im Italienischen pentola, im Französischen pot heißt; sagt oura, lat. aura, Wind; phason, lat. phasoleus, die Bohne; traz, lat. trabs der Balken; manté, lat. mantele, das Handtuch u. s. f. Und als Gruß hört man neben dem sonderbaren piemontesischen „geréja“ ein an das lateinische bonus vesper erinnerndes bon vêpro, dann aber plötzlich auf dem Markte des alten Jvrea von blonden Burschen und Mädchen gesprochene deutsche Laute, ein echt germanisches „Grüß Gott!“ Diese Landleute stammen aus dem Thal von Gressoney.

Die ganze weite wein- und wiesenprangende Landschaft, wo die Römer saßen, wo das spätere Mittelalter Kastell neben Kastell baute, wo der stille Glaube der Waldenser den Kampf mit Rom aufnahm und mutig noch heute weiter führt, ist mit Geschichte getränkt, das bedeutet freilich auch mit Menschenblut.

Jenseit der ersten hohen Bodenschwelle, deren Wände vom einstigen Lysgletscher spiegelglatt geschliffen wurden und die wir bei Pont Saint-Martin übersteigen, hat diese Geschichte wohl kaum ihren Fuß gesetzt. Hier, im Schatten uralter Kastanien, Nußbäume und Eichen scheint der Geist der Natur sein Reich des Friedens errichtet zu haben. Wie in vielen Alpenthälern kann man auch hier beobachten, daß dieses Thal des Lys eine Folge von sanft geneigten Ebenen ist. Dieselben sind voneinander durch mehr oder weniger mächtige Stufen oder Bodenschwellen getrennt, deren hauptsächlichste sich im obern Thal, im Gebiet von Gressoney erhebt, so daß die Landschaft selbst in ein „Unterteil“, ein „Mittelteil“, in dem die Hauptorte liegen, und in ein „Oberteil“, das bis zum Ursprung des Lys aufsteigt, geschieden wird.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0055.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)