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Mädchen von Gressoney im Brautschmuck.


Wild, überkeck von seiner Geburt bis zur Vermählung mit der Dora, bricht der Lys, genährt von der schäumenden Gletschermilch, aus den Urgebirgssteinen hervor und durchfließt tönend, weithin vernehmbar, drängend und treibend, sich wendend und windend, das sieben Stunden lange Thal. Wie Silber glänzen seine Wellen, ein leuchtendes Band, das den grünen Teppich der Wiesen durchsticht. Die schwarzen Riesenblöcke, die der Gletscher vor Urzeiten hier abgelegt, überspringt er, schwindet dann hinter steilen Felsaufbäumungen, zwängt sich durch Spalten und Schluchten, ihres grausenerweckenden Wesens wegen vom Volke Orridi (die Schrecklichen) genannt, bildet Fälle und Stromschnellen, verrät sich hier und da nur durch sein Tosen, ist überall unbändig und trägt nur unwillig das Joch der Brücken und Stege. Geduldig seinen Windungen folgend, zieht von Pont Saint-Martin her seit wenigen Jahren, nach den beiden Gressoney eine prächtige Fahrstraße hinauf, die zunächst zur Bequemlichkeit der Königin von Italien hergestellt wurde, welche für diese Gegend eine große Vorliebe hegt.

Die Berge, die das Thal fassen, sind alle bedeutend; überragt werden sie von dem Kolosse des Grauhaupts, an dessen Fuße sich die beiden Gressoney angesiedelt haben, und das, zu der stolzen Höhe von 3315 m emporragend, mit dem tief im Hintergrunde des Thales silberweiß aufleuchtenden Monte Rosa, der im Lyskamm bei 4447 m gipfelt, sich messen möchte.

Zwei Blumen, sagt das Volk, sind dem Thale auf den Hut gesteckt: Lys, die Lilie, und Rosa, die Rose. Diese Deutung ist sehr poetisch, Liso heißt aber im Dialekt des Aostathales jedes größere Thal mit einem Wasserlauf, und der Monte Rosa hat schwerlich etwas mit Rosen zu thun, denn in demselben Idiom heißen eben die Gletscher Roese, Roïses und Ruize. Im Valsesia nennt man ihn gar Bioso und Monboso, in seinen südlichen Thälern aber, wo Deutsche wohnen, hieß er der Gorner, wie noch jetzt der Gletscher bei Zermatt. In dem Nachbarthale von Gressoney, in Ayas, nennt man ihn Monte della Roiza. Viele Oertlichkeiten des Thales aber, Alpen, Berge, Häusergruppen, haben deutschklingende Namen, wie Blatta, Kasten, Grauhaupt, Weißweib, Noversch, Netscho, Olen, Am Betta, Selbsteg, Stavel, Alp Ofer; Kälberhorn, Pfaffe, Karrohorn, Unterlicht, Gemsstein, Marienhorn u. v. a. Die Ortschaften des Thales, von Martinsbruck begonnen, sind Perloz, Lillianes, Fontainemore mit dem hochinteressanten Wassersturze, dem Orrido di Guillemore, Issime, Gaby an der Mündung des Nielthales, Trento und die beiden Gressoney.

Wir sind im Hintergrunde des Thales angelangt und haben eins der erfreulichsten Ziele erreicht, das der Sommerwanderer weitaus erreichen kann: ein stilles liebliches Hirtenthal, ausgerüstet mit allen Schönheiten und Eigenheiten einer großen Alpennatur, mit Wäldern und Wiesen, der köstlichsten Luft und dem dazu gehörigen Hotelkomfort, ohne jenen übertriebenen teueren Luxus so vieler Schweizerhotels. Das Thal ist noch nicht überlaufen, es ist noch „heimelig“, trotzdem die Königin von Italien seit Jahren den heißesten Sommermonat hier verbringt, wobei sie in der Tracht der Thalbewohnerinnen erscheint.


Gressoney la Trinité.


Schon dieser Fremdenverkehr hat nun freilich auch die Baulust in Gressoney angeregt, und der Stil, der dabei zur Verwendung kommt, und die weiß oder rot getünchten Häuserfassaden stören einigermaßen die Harmonie der von den Vätern

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0056.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)