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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Nein, sie hat noch gelebt, rief eine alte Frau, die heftig weinte, und sie hat noch sagen können, daß den Firmian keine Schuld trifft, und dann hat sie noch versehen sein wollen – und da kommt eben der Herr Pfarrer – o Jesus Maria Joseph! das Unglück! Einen Tag vor der Hochzeit!

Wirklich sah man eben den Geistlichen, der das Viaticum in den Händen trug, von einem Chorknaben gefolgt aus der Einfahrt des Gasthofs kommen und durch die Menge, die vor ihm niederkniete, der Kirche zuschreiten. Sein breites, joviales Gesicht war sehr ernst. Als er mich erblickte, nickte er mir mit einer schmerzlichen Gebärde zu und erhob dann die Augen zum Himmel.

Wie mir zu Mute war, können Sie sich ungefähr denken. Aber so gräßlich das Ereignis erschien, ich empfand doch heimlich eine gewisse Erleichterung nach dem peinlichen Druck der letzten Tage. Alles besser als das, was am nächsten Morgen hatte geschehen sollen!

Ich drängte mich hastig durch die Menge durch, betrat das Haus und stieg mit zitternden Knieen die Treppe hinauf, an der weinenden Christel und dem alten Hausknecht vorüber, die Mühe hatten, den Schwarm der Neugierigen und Trauernden zurückzuhalten. Das ganze Haus und den Korridor oben durchzog noch die duftende Wolke des Weihrauchs, die der Priester zurückgelassen hatte. Die wies mir auch den Weg nach dem Sterbezimmer.

Die Thüre stand offen. Vom Hof herein drang nur noch ein schwaches Zwielicht. Ich sah die Johanne auf ihrem Bett lang ausgestreckt, mit geschlossenen Augen, die sie langsam öffnete, als ich über die Schwelle trat. Nie werde ich den Blick vergessen, von einer so verklärten Ruhe, fast heiter, und um die Lippen ein schwaches Lächeln, als ob sie sagen wollten: du siehst, du hast dir umsonst Sorge gemacht um meine Zukunft. Ich habe nun keine andere Zukunft mehr, als im Himmel.

Das neue Landtagsgebäude in Berlin.
Nach einer Photographie von Jul. Richter in Berlin.


Es dauerte aber nur ein paar Sekunden, dann wich der Glanz aus den großen grauen Augen und das edle Haupt, an dessen linker Seite hinter dem Ohr dunkles Blut in langsamen Tropfen auf das weiße Kissen rann, neigte sich nach rechts, und die Brust begann schwer zu arbeiten. Jetzt erst bemerkte ich, wer noch im Zimmer war. An der Seite des Betts kauerte, unförmlich in sich zusammengesunken, der unglückliche Mensch, der mir mit dem Ausdruck blöder Hilflosigkeit entgegenstarrte, während ihm die Thränen über das verzerrte Gesicht liefen. Er hatte die eine Hand der Sterbenden mit seinen beiden knochigen Fäusten umklammert, als ob er sie mit Gewalt festhalten wollte, daß sie ihn nicht verließe, und sie hatte ihm ihre blasse Hand nicht entzogen. Am Fußende des Bettes aber kniete in einem Aufzuge, wie wenn sie selbst eben erst ihr Bett verlassen hätte, das schwarze Tuch um den grauen Kopf gehüllt, die alte Wirtin, leise in sich hinein schluchzend.

Keine zehn Minuten hatte ich in meiner Erschütterung so gestanden und dem Rätsel dieses Schicksals nachgesonnen, da traten noch zwei Männer herein, der Bürgermeister und der Bezirksarzt, beide in tiefer Bewegung. Der Arzt näherte sich dem Bette, faßte die andere Hand der jetzt regungslos Daliegenden und drückte sein Ohr an ihr Herz. Nach einigen Minuten richtete er sich wieder auf. Es ist vorbei! sagte er leise. Dann entwand er die andere Hand dem Firmian, legte beide gefaltet auf die Decke und schloß die offenen Lider. Der Bürgermeister bückte sich zu dem Burschen herab, der jetzt in ein krampfhaftes Heulen ausbrach. Steh auf! sagte er barsch, du mußt mit mir kommen. – Ich bin unschuldig! rief der Unglückliche. Gott weiß, ich hab’ es nicht gethan. – Das wird sich finden, antwortete der gestrenge Vater der Stadt. Das Gericht wird darüber entscheiden.

Er packte den Widerstrebenden am Arm und zerrte ihn in die Höhe.

Führen Sie ihn nur fort, Herr Bürgermeister, kam es jetzt aus dem schwarzen Tuch hervor, aber behandeln Sie ihn nicht wie einen Missethäter. Ich kann bezeugen, daß er es nicht gethan hat. Wer die Schuld trägt, ob es nur ein Zufall war, oder ob sie selbst – nur der himmlische Richter kann es entscheiden. Ach meine arme Johanne, mein unglückliches Kind –.

Und sie raffte sich mühsam auf, tastete sich am Bett entlang und drückte ihren stammelnden Mund auf die gefalteten Hände.

*      *      *

Die Männer hatten sich entfernt und den Firmian mit fortgeführt. Es gelang mir mit großer Mühe, die alte Frau zu bewegen, daß auch sie das Zimmer verließ und der Seelnonne, die inzwischen angelangt war, die Sorge für die Tote übergab.

Ich führte die heftig Weinende in ihr eigenes Zimmer neben dem der Johanne und bestand darauf, daß sie sich wieder zu Bette legte. Dann setzte ich mich zu ihr.

Ueber eine Stunde blieb ich dort, und während nebenan die Tote eingekleidet und aufgebahrt wurde, was unter beständigem Schluchzen und Gebetemurmeln der Christel geschah, hörte ich von der zuverlässigsten Zeugin, wie das schreckenvolle Ende dieses Trauerspiels sich zugetragen hatte.

Die gute Frau hatte gerade einen ihrer bösesten Anfälle und hütete schon seit dem Morgen das Bett. Von Zeit zu Zeit sei die Johanne hereingekommen, nach ihr zu schauen. Auch der Alten war die aufgeregte Munterkeit ihres Gesichts und ihrer Reden unheimlich gewesen, sie hatte aber nur gedacht, das Mädchen wolle sich über ihre eigene Bangigkeit betäuben.

Dann, gegen Abend schon, habe sie plötzlich die Thüre nebenan gehen und das Brautpaar eintreten hören und sich noch gewundert, daß die Johanne ihn in ihr Zimmer ließ, was sie bisher streng vermieden hatte. Die Thür zwischen beiden Stuben, die nach dem Hof gingen, schließe so wenig fest, daß man jedes Wort hören könne, das nebenan gesprochen werde. Darauf gerade muß es der Johanne angekommen sein.

Gleich beim Eintritt habe der Firmian sie küssen wollen. Sie habe ihn aber fortgedrängt und gesagt, dazu sei morgen nach der Trauung Zeit genug, er müsse überhaupt versprechen, sehr brav zu sein, sonst dürfe er nicht bei ihr bleiben. Sie möchte aber allerlei mit ihm besprechen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0065.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)