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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Tellern und weißem Theegeschirr zum Trocknen in der Sonne stand. Ein roh gezimmerter Stangenzaun, an welchem eine schon dicht verwachsene Zeile junger Fichtenbäumchen angepflanzt war, zog sich im Geviert um die Hütte und umschloß einen kleinen sorgsam gepflegten Garten, der sich mit seinen grünen Rabatten, mit seinen leuchtenden Blumenbeeten und seinen weißen, kiesbestreuten Wegen gleich einer lieblichen und wundersamen Oase von der wilden Unkultur der Umgebung abhob. Aber auf diesen Beeten blühte keine der Zierblumen, wie sie in den Gärten des Thales heimisch sind – eine kundige Gärtnerhand hatte hier gesammelt und durch Pflege veredelt, was zwischen der Waldgrenze und den Schneefeldern der Berge an Blumen gedeiht. Neben feurigen Alpenrosen schimmerten die blauen Glocken des Enzian, Speik und Edelraute blühten neben dem Almrausch, dessen zarte, rosige Dolden schon zu verwelken begannen, Mardaun und Brunellen neben Arnika und zierlichen Orchisarten, und ein aus Felsen aufgebauter Hügel trug in seinen mit Erde ausgefüllten Spalten die kleinen blaßgrünen Stauden des Edelweiß, dessen Stöcke, nach den frischen saftigen Blättern zu schließen, hier gut zu gedeihen schienen, obwohl sie ohne Blüten waren. Die Farben all dieser seltenen Bergblumen, die hier in so reicher Fülle auf einem winzigen Flecklein Erde gesammelt waren, hatten etwas Ungewöhnliches und Seltsames, und zu diesem überraschenden Anblick gesellte sich der fremdartige, süße Duft, den diese blühenden Beete in den reinen Morgen hauchten.

Ein einziger Baum nur stand im Garten, in einer Ecke des Zaunes. Und der wunderliche Wuchs dieses Baumes stimmte zu allem übrigen, als hätte ihn die romantische Laune eines Künstlers unter Tausenden ausgewählt und hierher gestellt, um den ungewöhnlichen Eindruck dieses ganzen Gartenbildes noch zu erhöhen. Es war kein Baum – es waren sieben Bäume in einem: eine uralte riesige Zirbe, auf deren harfenförmig ausgebogenem Hauptstamm sieben senkrecht nebeneinander aufsteigende Aeste sich zu starken Stämmen ausgewachsen hatten. Der Baum war anzusehen wie eine gewaltige grüne Leier. Und diese Leier klang auch! Wenn der sachte Wind die Aeste bewegte, ging ein tiefes lindes Rauschen durch die zottigen Nadelbuschen, und mit diesem Grundton klangen leise feine Glockenstimmchen zu einem weichen, traumhaften Accord zusammen.

Verwundert – so recht wie einer, der im Märchen die Pforte einer verzauberten Stätte betritt – zur Neugier gereizt und doch von einer seltsamen Scheu zurückgehalten, stand Ettingen vor der Umfriedung des Gartens. Bald glitt sein Blick über die stillen Blumen hin, bald suchten seine Augen in den Wipfeln des Harfenbaumes die tönenden Glöckchen, bald wieder musterte er die Hütte und spähte nach Thür und Fenstern.

Er lächelte. „Hier muß es wohnen … mein Märchen!“

Und da kam es auch schon gegangen – drüben, auf der anderen Seite des Gartens, vom See herauf. Aber es kam nicht schwebenden Schrittes, nicht mit dem Lilienstab, so gar nicht märchenhaft, sondern festen Ganges, gut ausholend bei jedem Schritt, und während sie den linken Arm, um das Gleichgewicht zu halten, seitwärts streckte, trug sie in der rechten Hand eine große, wassergefüllte Gießkanne, deren schwere Last jede Linie dieses geschmeidigen Mädchenkörpers straffer spannte – ein Bild gesunden, jugendfrischen Lebens, kraftvoll und schön zugleich.

Auch anders gekleidet war sie als an jenem Abend im schweigenden Walde. Sie trug eine helle Bluse aus leichtem Flanell und dazu einen glatt fallenden braunen Lodenrock, unter dessen Saum noch ein Stücklein jener grauen Wollstutzen zu sehen war, wie die Sennerinnen sie bei der Arbeit zu tragen pflegen. Das reiche Haar, das nach dem Bade noch nicht völlig getrocknet schien, fiel ihr mit wirrem Geringel über Nacken und Schultern bis auf die Hüften nieder, und die um Stirn und Schläfen sich kräuselnden Härchen leuchteten in der Sonne so goldig, daß der ganze schöne Mädchenkopf wie von einem zitternden Schimmerkranz umgeben war.

Als sie mit dem Knie das Gartenthürchen vor sich aufstieß, gewahrte sie drüben am Zaun den ihrer harrenden Gast. Kaum merklich zuckte es um ihre Lippen, als hätte sie in Gedanken zu sich gesagt: Das ist er wieder, der von neulich, aus dem Gaisthaler Wald!

Ettingen lüftete das Hütchen. „Guten Morgen, mein Fräulein!“

Schweigend dankte sie, wohl freundlich, aber doch nicht anders, als man auf der Straße den höflichen Gruß eines Fremden erwidert.

„Und wollen Sie einem müden Sterblichen erlauben, daß er Ihren blühenden Zaubergarten betritt, um eine Minute zu rasten … dort, unter Ihrem singenden Baum?“

Nun blickte sie auf, und eine Furche lag zwischen ihren Brauen. Hatte ihr seine Frage wie Spott geklungen? Oder wie die banale Redensart eines Zudringlichen? Doch als ihr Auge dem seinen begegnete, glättete sich ihre Stirn und sie sagte ruhig:

„Treten Sie nur ein … dort das Thürchen hat keinen Riegel. Man sieht Ihnen ja an, daß Sie heute schon einen Weg hinter sich haben, der Ihnen warm gemacht hat. Dort bei der Zirbe finden Sie eine Bank … die hat Schatten.“

Während sie das sagte, ging sie auf die Hütte zu. Nun stellte sie die Kanne nieder und verschwand in der Thüre.

Welch einen weichen, traulichen Klang ihre Stimme hatte! Und wie diese paar Worte so einfach und natürlich hingeplaudert waren! Ettingen verwandte die Augen nicht von der Thüre, während er raschen Ganges die Fichtenhecke umschritt und den Garten betrat. Gerne hätte er einen Blick in das Innere der Hütte geworfen, aber die Thüre war zugelehnt. Einem der weißen Kieswege folgend, ging er auf die Zirbe zu, in deren Schatten er einen schwer gezimmerten Holztisch fand und eine aus bizarr gewachsenen Latschenzweigen geformte Bank, deren Holz unter dem Schnee vieler Winter schon völlig schwarz geworden war.

An diesem Tische mußte schon manch ein müder Wanderer gerastet haben, denn zahlreiche Buchstaben, ganze und halbe Namen, Jahreszahlen und absonderliche Zeichen waren in die morsche Tischplatte eingeschnitten. Auch der breite Stamm des Harfenbaumes war übersät mit solchen Zeichen, alten und neuen, unter denen eine Reihe von Einschnitten, die in der Mitte des Baumes regelmäßig übereinander angebracht waren, eine Art von Hausherrenrecht auf dieser Rinde zu beanspruchen schien. Da stand zu oberst in der Reihe: „LOLO, aetatis suae XIV – PAPA, aetatis suae XLV[1] – dabei eine Jahreszahl, und diese Zeichen waren umzogen von einer tief eingeschnittenen Herzlinie mit einer Flamme. Diese Inschrift war sieben Jahre alt – die Schnitte begannen schon in der Rinde zu vernarben. Darunter standen noch, ersichtlich von der gleichen Hand geschnitten, die Zahlen von fünf aufeinander folgenden Jahren, und die letzte dieser Zahlen – sie schimmerte noch weiß im Holz und hatte erst einen einzigen Winter überstanden – war umgeben von einem Kränzlein frischer Alpenrosen. Das berührte, als hätte die Spenderin dieser Blumen sagen wollen: „Du letztes Jahr! Wie warst du schön! Ich werde dich nie vergessen! Nie!“

Nachdenklich, von seltsamer Stimmung umfangen, betrachtete Ettingen diese Zeichen und Blumen, während ihm zu Häupten der Wind durch die buschigen Zweige der Zirbe strich und leis die melodischen Glockenstimmchen tönen machte.

„Lolo? …. Ob das ihr Name ist?“ …. Dann hatte ihr Vater dieses kleine Paradies geschaffen, hier in der einsamen, friedlichen Wildnis der Berge? Und mit ihrem Vater lebte sie hier? Sieben Sommer? Sieben schöne Sommer, so schön und reich, daß ihre Freude sich in die Rinde dieses Baumes grub, um ein Zeichen der Dauer zu haben? – Und weshalb war dieses jüngste Jahr noch nicht eingeschnitten? Zählte es nicht mehr?

Oder war die Hand erkaltet, welche diese anderen Zeichen eingegraben? Hatte sie den Vater verloren im vergangenen Jahr? … Deshalb diese Blumen um die letzte Zahl?

Da weckte ihn ein leises Klirren aus seinen Gedanken.

Drüben, beim Blockhaus, ging das Mädchen langsam an der die Holzwand säumenden Rabatte entlang, um den Epheu zu begießen. Er hatte überhört, daß sie aus der Hütte getreten war. Und nun trug sie die Haare aufgesteckt, nur lose über dem Scheitel zu einem Knoten geschlungen, aber das stand ihr fast noch besser zu Gesicht als das offene ungezügelte Gelock. Wie der Knoten die Fülle des Haares nicht bändigen wollte, wie die kleinen widerspenstigen Ringeln sich lösten und bei jedem Schritt um Stirn

  1. Lolo, im 14., Papa, im 45. Lebensjahre.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0074.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2023)