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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

arm’s, der Hundefänger hat ihm auch schon aufgepaßt; ’s hat halt seinen Herr verlore.“

Der Polde stand mit einem Male dicht vor ihm.

„Kann man nix mache, daß er ihn wiederfindet?“

„Ha“, gab ihm der Bureaudiener zur Antwort, „eine Hundemark hat er, glaub’ ich, anhänge, aber man kommt ihm ja nit bei; auf der Mark könnt’s stehe, wem er gehört, nur lese müßt’ man’s könne –“

Polde war mit einem Male so viel flinker als früher; sonst hatte er sich recht Zeit gelassen mit seinen Kohleneimern, jetzt ging’s unter lautem Keuchen die Treppe hinauf; dann besorgte er noch seine Ausgänge, die er sich sonst auf den Nachmittag gespart hatte. Kaum war die Schule aus, war er auch schon auf dem Schloßplatz. Brachten die Leute in der Nachbarschaft nicht das Futter zur rechten Zeit, so ging Polde in die Häuser, um es zu holen. Mit jedem Tag warf er dem Hund die Brocken etwas näher; das Tier stutzte und besann sich; es ließ den Knaben locken, bitten und flehen, indem es ihn unverwandt anschaute, wie um auf den Grund seiner Seele zu dringen. Dann wagte es den Schritt und Polde buhlte am folgenden Tag um einen neuen. Hatte der Hund sein Futter bekommen, so saß er dem Knaben gegenüber, und ganz allmählich wurde der Raum zwischen ihnen kleiner und kleiner.

Es war ein naßkaltes, unfreundliches Wetter; Frau Stehle stand mit dunkelrotem Kopf in ihrer kleinen warmen Küche am Bügelbrett.

„Kannst jetzt das Büble nit reinkomme heiße?“ meinte der Mann, „’s steht immer drauße und friert.“

Frau Stehle wußte es wohl; es ließ ihr auch keine Ruhe, aber hatte es einen Sinn, sich anderer Leute Kinder ins Haus zu gewöhnen? Außerdem war es ihrer mitteilsamen Natur geradezu eine Qual, so ein verstocktes Geschöpf um sich zu haben.

Nichtsdestoweniger ging sie von Zeit zu Zeit unter die Hausthüre, um nach ihm zu sehen, und eines Tages gewahrte sie zu ihrem Schrecken, wie der Knabe ein Stück altbackenes Brot vom Futter des Hundes gierig in den Mund steckte. Sie wies ihn herein.

„Polde, jetzt sag’ mir einmal ehrlich, was habt ihr heut’ zu Mittag gegesse?“

Er machte wieder sein verstocktes Gesicht und schwieg. Aber sie war gesonnen, ihn endlich zum Reden zu bringen, und wappnete sich mit Geduld. Dreimal stellte sie dieselbe Frage an ihn:

„Was ihr heut’ gegesse habt?“

Endlich stotterte er: „Weiß nimmer.“

„Habe sie dir vielleicht nit genug gebe?“

„Doch.“

„Warum aber ißt du denn vom Hund seinem Sach’?“

„Ich hab’ nit von seinem Sach’ gesse.“

„Lügst wieder, ich hab’s doch gesehe.“

Er besann sich: „Versucht hab’ ich, ob’s nit zu schlecht für ihn ist.“

„Polde, ich will dir was sage: wenn du mir offe und ehrlich bekennst: ja, Frau Stehle, ich bekomm’ nit genug zu esse – dann kriegst wieder alle Tag deinen Nachmittagskaffee. Ueberleg’ dir’s, ich laß dir Zeit.“ Sie faßte einen frischen Stahl und wandte dem Polde den Rücken; als sie sich umsah, war er nicht mehr da.

„Jetzt weiß ich,“ sagte sie zu ihrem Mann, als er herunterkam, „jetzt hab’ ich’s heraus, der Bub’ wird ein Bösewicht, so bereitet sich der vor, mit Verdrucktheit; da hilft kein guter Wille, da hilft kein Mitleid; da wär’ ich dumm, ich geb’ ihm den Laufpaß.“

„Das thät ich nit,“ meinte der Mann, „ich weiß nit, mich erbarmt der Bub’; er will den Hund zähme wege der Hundemark, damit er sehe kann, wem er gehört. Da kann man sich doch nur wundre über so eine Geduld. Er hat mir’s selber gesagt.“

„So, warum sagt er denn mir nix?“

Herr Stehle unterdrückte die Antwort, die ihm auf der Zunge schwebte; er wollte die Frau nicht gegen das Kind aufbringen; es ging ihm, dem Mann, ja so besonders gut, seit ihre Gedanken sich so nachhaltig mit der Erziehung des Buben beschäftigten; es ging alles so viel glatter ab zwischen ihnen, beinahe friedlich.

„So,“ sagte sich Frau Stehle, „er will den Hund zähme, das soll mich denn doch wunder nehme –“

Sie ging vors Haus, um sich die Sache anzusehen.

Ein wenig Schnee lag auf den kahlen Aesten der Bäume drüben auf dem Schloßplatz; ein schneidender Wind kämpfte mit dem von Schneeflocken untermischten Regen, der prasselnd gegen die Straße schlug. Pfützen und Schmutz wohin das Auge sah, und kein Mensch weit und breit. Der Polde stand da, triefend vor Nässe mit eingebogenen Knieen, die vor Kälte schlotterten. Aber sein Gesichtchen sah ganz zufrieden aus; etwas unbeschreiblich Mitleidiges lag darin; er sah auf den Hund nieder, der so nahe bei ihm lag, daß er ihn hätte mit der Hand erreichen können. Allein Polde rührte sich nicht; fürchtete er durch eine Bewegung, durch ein Uebereilen das schwer errungene Vertrauen des Hundes zu verscherzen? Nicht einmal ein Zucken der tiefschwarzen Augenwimpern, die das einzig Schöne in des Knaben Gesicht waren, verriet, was in seinem Innern vorging. Er sang ein Schullied mit zarter heiserer Stimme und der Hund winselte dazu.

Frau Stehle konnte dieser elenden kleinen Stimme nicht lange zuhören, sie ging flugs ins Haus zurück, indem sie sich mit der Hand wie verstohlen über die Wangen fuhr.

Zu Weihnachten sollte der braven Frau Stehle eine neue Enttäuschung blühen; sie hatte sich gefreut, den Buben recht zu beschenken; zu dem Anzug sollte er ein Paar Strümpfe bekommen, alte noch gute Schuhe, ein Hemd und sogar einen farbigen Schlips, den ihr Mann noch ganz gut hätte tragen können.

Polde nahm alles hin, ohne eine Miene zu verziehen, nicht einmal der große Lebkuchen und die roten Aepfel vermochten ihm ein Lächeln zu entlocken. Er sagte „Danke“ und lief so gleichgültig mit seinen Sachen davon, als ob sie ihn nichts angingen.

„Der Kerl hat mir die ganz’ Weihnacht’ verdorbe,“ beklagte sich Frau Stehle bei ihrem Mann, „ich kann nit lebe mit so einer Natur, ich kann’s halt nit, ich muß Mensche um mich habe, die lache könne und rede – so ein Duckmäuser macht mich ganz krank. Ich will ja gar nit emal von Dank sage, aber doch ein bisle Freud’, ein bisle Freud’ will man doch sehe, wenn man sich den Schlaf abgespart hat, um so ein Kind rauszustaffiere –

Nein,“ fuhr sie ihrem Mann ins Wort, der sie zu besänftigen suchte, „ich will nix höre, nimm ihn mir nit in Schutz, der Bub’ ist halt mei Antipathie, und seine Antipathie kann sich kein Mensch auf der Welt wegdisputiere, und damit ich nit immer alles Unangenehme allein hab’ – du giebst ihm den Laufpaß – du! und damit fertig, wenn du überhaupt an dem Feiertag irgend eine von deine Leibspeise auf dem Tisch sehe willst!“

Die mochte Herr Stehle doch sich nicht verscherzen, und so schwieg er und dachte: ’s kommt auch wieder anders.

Polde erschien am Feiertagmorgen wieder in seinem alten zerrissenen Anzug, und als ihn Frau Stehle zur Rede stellte, warum er seinen neuen Rock nicht angezogen habe, gab ihr der Bub’ zur Antwort: „Weil ich nit hab’ wolle.“

Warum packte sie ihn denn nicht bei den Ohren?

„O du,“ knirschte sie hinter ihm her, als sie ihn mit seinem Eimer voll Kohlen davon wanken sah, „wenn du nur ein einzig’s Mal offe wärst, was thät ich nit für dich –“

„Hast ihm aufgesagt?“ fragte sie den Mann.

„Noch nit,“ brummte er, „so wart’s doch ab!“

Sie kam später gerade dazu, wie er draußen bei dem Buben stand. Aber statt mit seiner Angelegenheit herauszurücken, griff er in die Tasche und schenkte dem Polde ein paar Pfennige.

Bei Tisch fragte die Frau: „Hast ihm jetzt aufgesagt?“

„So halb und halb,“ brummte Stehle.

„Jetzt lügt der auch,“ dachte sie und lief von Stund an alle paar Augenblicke hinaus, um auch den Mann zu beobachten.

So geschah es eines Tages, daß sie gerade in dem Augenblick dazu kam, wie der Hund und das Kind beisammen standen, ganz dicht beisammen. Polde streichelte das Tier, das vertrauensvoll zu ihm aufschaute; mit zitternden Händen nestelte er an dem Halsband herum; wie fest saß die eingerostete Schnalle, die Haare des Hundes klebten daran. Eine fieberhafte Ungeduld schien das Kind zu erfassen, seine Blicke irrten umher, offenbar in der Angst, es möchte jemand kommen und den Hund in die Flucht treiben. Poldes Hände wurden immer ungeschickter, endlich bückte er sich, um mit den Zähnen den Riemen zu erfassen; etwas Klirrendes fiel zur Erde, der Hund schrak zusammen und floh, Polde aber hielt tief aufatmend das Halsband in den Händen.

Was wird er jetzt mache? fragte sich Frau Stehle, wenn er jetzt nit zu mir kommt und den Mund aufthut, dann –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0087.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2019)