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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

er geht ins Wirtshaus. Wir sind so vergnügt, wir möchte’s gar nit anders habe. Alle Sonntag Nachmittag kehre wir ein und komme erst in der Nacht heim. Dann legt er mir alle Kinder ins Bett, denn ich bin immer ganz taumelig vom Bier.“

„So!“ Frau Stehle sah ganz verwirrt drein. „Daß es so Männer giebt, merkwürdig!“

Sie holte ihre Düte aus der Manteltasche.

Die Kinder waren mittlerweile mit ihren Kastanien fertig geworden und fingen an, die Mutter mit den Schalen zu bewerfen. Das gab ein lustiges Gelächter; die Frau fing die kleinen Missethäter auf, und hatte sie einen, bedeckte sie ihm das Gesicht mit Küssen. Es war nicht zu verkennen, die Frau liebte ihre Kinder.

Frau Stehle wurde immer kleinlauter. „Die sind doch alle lustig,“ dachte sie, „also liegt’s am Polde.“

Sie hatte die Brezeln auf den Tisch gelegt. „Kommt her, Kinder, und laßt’s euch schmecke, du auch, Polde –“ Er kam.

„Nimm dir, nimm dir,“ ermutigte ihn die Mutter, dabei sah sie ihn an, und da geschah’s – Frau Stehle ertappte diesen Blick und erschrak; der, der sagte ganz was andres als: nimm dir, nimm dir – es war der Blick einer raubgierigen Katze, im Begriff, auf ihr Opfer loszustürzen. Polde, der schon die Hand nach der Brezel ausgestreckt hatte, ließ sie wieder sinken und zog sich in seine Ecke zurück.

Die Frau aber brach in ein unbändiges Gelächter aus.

„Haben Sie jetzt wieder gesehe – undankbarer Strick du! Die andre sind froh um alles, gelt ihr?“

Und flugs teilte sie Poldes Anteil unter die aufjubelnden Kleinen aus.

Frau Stehle aber war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Sie,“ sagte sie, die Hand auf den Arm der Frau legend, „der Polde ist nit Ihr Kind, das mache Sie mir nit weis!“

Das Weib sah etwas verblüfft drein, dann kicherte es leise:

„Gelt, halt der Unterschied zwischen ihm und den andern? Ich sag’s immer zum Mann: das muß ja jeder sehe, daß der Grünschnabel nit in die Famill’ gehört.“

„Also ein Kostkind.“

Sie nickte. „Er ist mit meinem Erste aufgezoge; mein Mann hat gar einen gute Name in der Stadt; der Polde hat’s nie gemerkt, daß er nit uns gehört.“

„Aber Sie sage’s ja jetzt vor ihm.“

„Was versteht denn so ein Kind? Sie werde doch nit schon gehe, Frau Stehle, das wär’ mir aber leid; der Mann wird gewiß bald komme, ich werd’ ihn schelte, daß er so lang’ ausbleibt.“

„Ja, wisse Sie, bei uns ist das halt so,“ sagte Frau Stehle, „da kocht die Frau zu Mittag, und der Mann scheltet, wenn die Supp’ nit zur Zeit auf dem Tisch steht.

Polde,“ wandte sie sich im Vorbeigehen an den Buben, „ich hätt’ noch was zu thun für dich heute abend, kannst ruhig in deinem alte Kittel komme, ’s macht nix.“ Sie ging unter lautem Gelächter zur Thür hinaus, sie mußte lachen, um das Schluchzen zu ersticken, das ihr mit Macht zur Kehle heraus wollte.

Mein Gott, mein Gott, auf diesen ihren beiden Armen hätte sie ihn mögen davontragen vor aller Welt Augen –

Sie lief, sie rannte, der Weg zum Schloßplatz wollte heute kein Ende nehmen.

Ihr Mann war nicht zu Haus, noch eine Stunde war’s bis zur Essenszeit; das Feuer im Herd zischte, der Kochlöffel flog von einem Topf in den andern, Frau Stehle redete – mit erhobener Stimme und fliegendem Atem – alles sagte sie, was sie auf dem Herzen hatte, womit sie ihren Mann rühren, überzeugen, erschüttern wollte.

„Aber um Gottes Wille,“ ertönte seine Stimme unter der Küchenthüre, „man meint ja, du hättest mit einem ganzen Regiment Händel!“

Sie setzte die Suppe auf den Tisch. „Stehle,“ platzte sie los, „du weißt nit, was Herzweh ist, aber ich weiß es – der Bub’ hat gehungert seit er auf der Welt ist – das Weib ist nit seine Mutter. Nimm dir, nimm dir – hat sie zu dem Kind gesagt, aber die Auge – die Auge! Da hab’ ich alles gewußt, ’s ganz Elend – alles versteh’ ich – sein verschüchtert’s verstockt’s Wese – sein ganzes Betrage. Ich bitt’ dich um Gottes Wille, wie kannst du von dem Kind verlange, daß es offe sein soll! Vom Hundsfutter hat’s heimlich gegesse, und wir sitze da drin in unserem Küchele und lasse ’s uns schmecke – lasse das Kind da drauße im Rege stehe und sehe zu, wie’s alleweil elender wird und verkommener und –“

„Ja, was willst denn eigentlich,“ unterbrach sie der Mann, „deine Supp’ wird ja ganz kalt!“

„Nit einen Löffel ess ich, eh’s nit ausgemacht ist: wir nehme den Bub’.“

„Nehme?“ fragte Stehle, „ins Haus doch nit – wie soll ich denn das verstehe?“

„Herrjes, wie kann man’s denn anders verstehe? Vater und Mutter wollen wir ihm sein –“

„Jetzt hör’ auf, das geht mir denn doch ein bißle zu weit: ich bin immer dafür gewese, daß du dem Bub’ zu esse giebst; ich bin ein gutmütiger Mann, das weiß die ganz’ Welt, das laß ich mir nit abstreite. Aber so eine Last ins Haus, ein Kind, das einem nit gehört, davon will ich nix wisse, das kann man von keinem Mensche verlange, daß er so mir nix, dir nix sein bißle Behage aufgiebt.“

Frau Stehle ging zum Herd, stellte dem Mann das übrige Essen hin und setzte sich wieder vor ihren Teller Suppe.

„Hast die Predigt angehört, Stehle?“

„Von A bis Z.“

„Und kannst so daher rede? Ich hab’ nur einen Satz gehört, und der hat mich geschüttelt wie Espelaub: das von den Kindlein, und daß wir werde solle wie eins von ihne, und: ,Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.‘ Gelt, das ist dir zu einem Ohr nein und zum andern naus? Jawohl, Stehle, deine ganze Gutmütigkeit, gleich geht sie spaziere, wenn nur von fern deine Bequemlichkeit auf’m Spiel steht. Der Polde – Mann, ich vertrag’s nit, guck’, ich halt’s nit aus – ’s liegt wie ein Druck auf mir: ein Kind hat mich beschämt – der elend’, der miserabel Polde, wie er steht und geht in seine Lumpe und Fetze, der soll mich untergekriegt habe! Ich bin nit gutmütig, ich weiß, daß ich nit gutmütig bin, aber ich kann nit lebe ohne mei Selbstachtung; ich muß ins Bett liege könne mit dem Gedanke: so recht, Frau Stehle, heut’ hast’s wieder gut gemacht! Sonst kann ich nit schlafe, und wenn ich nit schlafe kann, dann kann ich auch nit schaffe, und dann lieber gleich ins Grab, ja, wahrhaftig, jede Schaufel Erd’ wär’ mir lieber als so ein Lebe! Und jetzt wähl’, Stehle, und gieb doch ein bißle acht, hast schon einen Flecke auf deinen gute Rock gemacht.“ Sie tauchte flugs ein Tuch ins heiße Wasser.

„Du weißt, das kann ich nit leide,“ sagte der Mann, während sie an seinem Flecken herumrieb.

„Und ich kann keinen Fleck sehe.“

„Und willst mit dem Bub’ fertig werde – so ein Schmutzfink? Und ich hab’ geglaubt, du haltst’s nit aus mit so einem verstockten Geschöpf, ich hab’ geglaubt, der Bub’ ist deine Antipathie?“

„Ebe deshalb muß er anders werde.“

„Du hast doch aber die ganz’ Zeit nix mit dem Starrkopf ausgericht?“

„Weil ich’s verkehrt angefange hab’; ich werd’s jetzt mache wie’s der Polde mit dem Hund gemacht hat. Das Kind ist verstockt, das Kind ist verloge und ein Schmierfink obedrein, eins aber hab’ ich raus: ein mitleidig’s Herz hat der Polde, und das ist meine Spekulation. Lasse wir’s auf einen Versuch ankomme, nur um zu sehe, ob ich recht hab’ oder nit – Stehle, ich bitt’ dich um alles in der Welt, nur ein einziges Mal in deinem Lebe gieb nach!“

Er lachte laut auf und sagte weiter nichts als: „Du lieber Gott im Himmel!“

Sie fing sofort an zu essen, kaum sich Zeit zum Schlucken gönnend, so unaufhaltsam drängten sich ihr die Worte über die Lippen:

„Vor alle Dinge – den will ich aber einseife! Gelt, Stehle, du holst mir den große Kessel aus der Waschküch’ rauf? Derweil zieh’ ich ’s Bett an im Bubezimmer – jetzt kommt’s doch auch noch dran! Dein dunkelgraue Rock und die alte Hose kann ich gerad’ noch zuschneide und zu Fade schlage, bis der Polde kommt – in der Nacht näh’ ich’s dann fertig; unser Herrgott wird ein Aug’ zudrücke wege ’m Sonntag, eine Ehr’ ist die andre wert. Und morge gehe wir gleich auf die Polizei und spreche mit dene

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0091.jpg&oldid=- (Version vom 12.8.2023)