Seite:Die Gartenlaube (1899) 0116.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

teilweise schon erwachsenen Kindern und einer Dame, welche auf alle Reize der Jugend längst verzichtet hatte.

Ringe zum Wechseln hatten wir nicht, und mit einem „lauten und deutlichen Ja“ antworteten wir auch nicht, aber Heine brachte die Feierlichkeit doch mit großem Anstand zu Ende, und dann lief eines der größeren Mädchen zu Bäcker Lembke und holte für 35 Pfennige, welche man aus gemeinsamen Mitteln zusammengeschossen hatte, kleine braune Pfeffernüsse, von denen es fünfundzwanzig für einen Nickel gab.

Von diesem schwelgerischen Hochzeitsmahl, welches in der Scheune vertilgt wurde, erhielt ich übrigens nichts, weil ich gleich nach beendigter Ceremonie nicht davon abzuhalten gewesen war, Kranz und Schleier gewaltsam aus meinen Haaren zu entfernen, was die anderen „eklig“ fanden, denn es hätte „so reizend ausgesehen“. Auch hatte ich dabei die heimlich zu diesem Zweck entlehnte Gardine zerrissen, was doch nicht ungerächt hingehen konnte, und so zog ich denn wirklich keinerlei Vorteil aus dem Opfer, das ich den Verhältnissen hatte bringen müssen.

Jedoch in Anbetracht der Thatsache, daß wir viele Stachelbeeren hatten und ich die kleinen Pfeffernüsse auch nicht besonders gern mochte, schmerzte mich dies wenig. Ich entschlüpfte dem Hochzeitsjubel, sicher ohne von Edu Callsen im mindesten entbehrt zu werden, und eilte zurück zu meiner Toni, die mir in ihrer stillen Art allen Trost gewährte, den sie irgend auftreiben konnte.

Aber ach, einen so bedeutungsvollen Schritt, wie ich ihn gethan hatte, thut man im Leben selten ungestraft.

Ich hätte vermutlich die ganze Geschichte ziemlich schnell verwunden, wenn nicht Parkau gewesen wäre. Parkau war mein dritter Bruder, der bis jetzt über die Quinta noch nicht hinaus gediehen war. Getauft war er Karl; da dieser Name aber für den täglichen Gebrauch natürlich zu lang war, wurde er abgekürzt in „Parkau Bootmann mit’n Hut, Peter Laß und Schubkarre“. Wenn wir es jedoch sehr eilig hatten, was meistens der Fall war, sagten wir bloß Parkau.

Parkau nun hatte als Trauzeuge fungiert, und, roh wie Bruder nun einmal sind, hatte er die ganze Begebenheit sofort bei der Heimkehr den großen Jungen brühwarm beigebracht. Darob natürlich großes Jubelgeschrei und der selbstverständliche Beschluß, mich in Zukunft mit Edu Callsen zu necken.

Als ich nun ganz harmlos zum Abendbrot erschien, an welchem unglücklicherweise an diesem Tage die Eltern nicht teilnahmen, scholl mir aus drei brüderlichen Kehlen im sentimentalsten Mollklang entgegen:

„In des Gartens dunkler Laube
Saß am Abend, Hand in Hand,
Ritter Edu neben Minna,
An die Teure festgebannt.“

Ich setzte meinen Milchbecher auf den Tisch, sprang auf und stürzte weinend aus dem Zimmer. Mein ohnehin etwas zartbesaitetes Gemüt war tief verletzt.

Da fühlte ich eine Hand freundschaftlich auf meine Schulter klopfen, und Hans, unser ältester, sagte liebevoll:

„Und er sprach zu Minna tröstend:
Teure, laß dein Weinen sein!
Eh’ die Rosen –“

Er konnte die Strophe nicht beenden, denn ich machte die Thür bereits von außen zu, und zwar, wie ich fürchte, keineswegs sehr leise. Aber noch auf dem Flur hörte ich fortissimo:

„Und in Marmor stand geschrieben:
Minna bleibt auf ewig dein!“

An diesem Abend weinte ich mich in den Schlaf, das ist mir noch deutlich erinnerlich.

Von nun an war Edu Callsen nicht nur bei uns, sondern bald auch in der ganzen Nachbarschaft in „Ritter Ewald“ umgetauft, und das alte, dumme, vorher schon beinahe ganz verschollene Lied erlebte eine fröhliche Auferstehung, denn es wurde unzähligemal gesungen, nämlich immer, wenn die grausame Jugend Lust verspürte, meine Augen vor Zorn funkeln oder in Thränen schwimmen zu sehen.

Wie oft – ach wie oft rief man mich aus irgend einem entfernten Winkel, in dem ich träumerisches kleines Ding mit einem Märchenbuch oder irgend einem phantastischen Blumenspiel saß, eifrig und beflissen herbei. „Minnie, Minnie, komm’ ganz geschwind mal her!“

„Was soll ich denn?“ fragte ich dann wohl argwöhnisch.

„Schnell mal herkommen – ganz geschwind, es wird dir sonst nachher leid thun!“

Kam ich dann zögernd, so zeigte man auf eine vorübergehende Gestalt: „Ich wollte dich nur aufmerksam machen, da geht Ritter Ewald.“ Ich zweifle nicht, daß man dem guten Jungen „die Minna“ ebenso beharrlich und zartfühlend in die Erinnerung zurückzurufen pflegte.

Er war nämlich wirklich ein guter Junge, der Edu Callsen, und auch durchaus nicht dumm oder feige, so daß man sich diese Fopperei wohl nicht erlaubt haben würde, wenn er nicht noch so fremd gewesen wäre. Aber obschon er sich einmal mit Parkau ganz regelrecht wegen der Sache prügelte, war und blieb er doch „Ritter Ewald“, und die natürliche Folge war, daß wir beiden Kinder, die wir uns sonst vermutlich nicht im mindesten im Guten oder Bösen umeinander gekümmert hätten, einen großen Haß eins auf das andere warfen; wenigstens weiß ich ganz gewiß, daß ich für meine Person einen wahren Abscheu gegen „Ritter Ewald“ hegte, obgleich er doch auch nur ein Opfer der Verhältnisse war wie ich. Und dieser Abscheu blieb auch, als nach und nach die Geschichte von der Trauung mehr in Vergessenheit geriet und das verhaßte Lied nicht mehr so oft als Mittel benutzt wurde, mich zu ärgern.

Ich wurde größer, und es wurde für angemessen erachtet, mich mit den älteren Schwestern in die Tanzschule zu schicken. „Ritter Ewald“ war ebenfalls da. Aber nie forderte er mich auf, mit ihm zu tanzen. Uebrigens muß ich auch leider gestehen, daß ich eine keineswegs sehr begehrenswerte Tänzerin war. Die Geheimnisse des Walzers wollten sich mir gar nicht erschließen, und erst viel später habe ich so etwas wie ein Verständnis dafür gewonnen. Auch „Ritter Ewald“ zeichnete sich durch besondere Grazie beim Tanzen nicht aus, und ihm ist es noch schlimmer damit gegangen als mir: er hat es nie ordentlich gelernt.

So war der große Tag des „Abtanzballes“ herangekommen, mit dem der Tanzunterricht abgeschlossen wurde. Ich muß leider der Wahrheit gemäß bekennen, daß ich dabei mehr als einmal betrübt als Mauerblümchen in meinem weißen Kleide auf der Bank sitzen blieb. Auch Edu war kein eifriger Tänzer, und so kam es, daß, als schließlich der Cotillon getanzt werden sollte, ich denselben – ich empfand es als tiefe Schmach mit meinen neun Jahren – nicht vergeben und „Ritter Ewald“ sich nach einer Tänzerin auch nicht umgesehen hatte.

Da saßen wir nun, die beiden einzigen Uebriggebliebenen, ich einsam auf meiner Bank, er halb versteckt hinter einem Pfeiler, bis Herr Piek, unser dicker Tanzlehrer, eilenden Fußes auf ihn zuschritt und lebhaft auf ihn einflüsterte.

Eine Weile schüttelte „Ritter Ewald“ trotzig den Kopf, dann erhob er sich langsam und schob sich zögernd – sehr zögernd! – quer durch den ganzen großen Saal auf mich zu und machte mir, dunkelrot im Gesicht, seine knabenhafte kleine Verbeugung.

Ich blieb sitzen, ohne mich zu rühren.

„Willst du – willst du nicht den Cotillon mit mir tanzen?“ sagte der arme Ritter mit offenbarer Selbstüberwindung.

Da blitzten ihn meine blauen Augen – sie konnten blitzen, wenn sie auch für gewöhnlich träumerisch dareinschauten – zornig an. „Nein, du Hans Huckebein,“ sagte ich, tiefste Verachtung in Ton und Miene, „mit dir tanze ich nicht.“

Sprach’s, stand auf, wandte ihm den Rücken und ließ den verblüfften „Ritter Ewald“ stehen, bereute auch hinterher durchaus nicht, was ich gethan hatte, obgleich mich meine resolute Mutter zur Strafe für mein unerhörtes Benehmen augenblicklich nach Hause und zu Bett schickte.

Ein paar Wochen später starb die alte Frau Callsen, „Ritter Ewalds“ Großmutter; Edu kehrte zu seinen Eltern, welche auswärts wohnten, zurück, und er entschwand meinem Leben völlig, bald auch meiner Erinnerung fast ganz, da das Lied, welches mich so oft geärgert hatte, nun endlich totgeschwiegen wurde, ein Schicksal, welches es nach meiner damaligen Ueberzeugung längst verdient gehabt hätte.

Wenn die großen Brüder ihre arme kleine Schwester necken wollten – und sie fühlten leider noch recht oft dieses Bedürfnis – so thaten sie es hinfort auf andere Weise, und ich lernte nach und nach, mich mit Humor zu wehren anstatt mit Thränen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0116.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2020)