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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Nach ein paar Jahren gingen die großen Jungen zur Universität ab, noch ein wenig später verlobten sich meine beiden Schwestern, erst die eine, dann die andere, dann verschwand auch Parkau, der Kaufmann geworden war, um „über See“ zu gehen, und schließlich wurde es ganz still bei uns. Ich war bei den Eltern ganz allein zurückgeblieben in meinem lieben, trauten, altmodischen Vaterhause, ja, ich hatte sogar schon das ehrwürdige Alter von dreiundzwanzig Jahren erreicht und war immer noch Haustochter.

Natürlich hatte sich inzwischen allerlei ereignet.

Aber die Begebenheiten, die mein Dasein ausfüllten, waren durchaus nicht welterschütternder Art. Ich freute mich meines Lebens, aber auf meine eigene Weise, die immer noch mehr nach innen als nach außen gerichtet war. Eine Schönheit war ich nicht geworden: die dicken schwarzen Flechten und die blauen Augen hatte ich zwar, wie das ja auch nicht anders zu erwarten war, behalten, dazu hatte mir Mutter Natur freundlicherweise helle, zarte Farben, hübsche Zähne und ein schlankes Figürchen verliehen, doch gehörte ich durchaus nicht zu denen, welche Männeraugen magnetisch auf sich lenken, hatte auch, offen gesagt, keineswegs den brennenden Wunsch, das zu thun.

Auf Bällen brauchte ich nicht mehr das Mauerblümchen zu sein, da ich seit geraumer Zeit ordentlich Walzer tanzen konnte, aber die Rolle einer Ballkönigin war mir noch kein einziges Mal zugefallen. Einmal hatte mich jemand heiraten wollen. Den hatte ich aber nicht gemocht, und er hatte sich dann auch bald über den Korb getröstet und sich eine Frau mit viel Geld genommen. Einmal wäre ich gern jemandes Frau geworden; der hatte sich aber leider gar nicht um mich gekümmert. Doch nachdem ich diesen Kummer längere Zeit im verborgensten Herzenswinkel mit mir herumgeschleppt hatte, schwand er nach und nach von selbst in sich zusammen, und ich wurde wieder fröhlich, sah auch mit ziemlicher Gelassenheit der Möglichkeit entgegen, daß ich mich vielleicht zur ledigen Familientante auswachsen könnte, obgleich mir dieser Zustand durchaus nicht als der hienieden wünschenswerteste erschien. Ja, eigentlich war ich schon so etwas wie eine Familientante, denn bei allen meinen Geschwistern gab es jungen Nachwuchs in reichlicher Zahl, und Tante Minnie war mit allen keinen Neffen und Nichten sehr intim befreundet.

Besonders lieb unter den Geschwistern war mir immer Lotte geblieben, trotzdem sie auch jetzt noch sehr tugendhaft und belehrend war und mit Vorliebe erziehend auf mich einzuwirken suchte. Zu ihr ging ich auch am liebsten als Logiergast zu Besuch, denn sie wohnte in wunderhübscher Gegend in einer kleinen sehr gemütlichen Stadt, wo mein Schwager Prediger war.

Und wieder einmal hatte sie mich zu sich eingeladen; es war im Spätsommer.

Das junge Volk, ein Neffe mit stolzer Sextanermütze und zwei niedliche blonde Zwillingsmädel, welche gewiß niemand „Weff Hühnerbein“ nennen konnte, holten mich in jubelndem Triumph vom Bahnhof ab, und noch hatten wir den kurzen Weg bis zur Pfarre nicht zur Hälfte zurückgelegt, als ich bereits über das große Ereignis, welches alle Gemüter in Aufruhr versetzte, unterrichtet war.

Der Sedanball stand für morgen bevor! Der Sedanball, das große, alljährliche Schulfest des Gymnasiums, an dem sich Fritz als hoffnungsvoller Sextaner zum erstenmal beteiligen durfte, was er mir, durchdrungen von einem Gefühl überwältigender Wichtigkeit, mitteilte, und zu dem auch die Zwillinge, Anne und Marie, seit Ostern „höhere Töchter“, eingeladen waren.

„Und weiße Kleider bekommen wir an, Tante Minnie, sie sind schon länger gemacht, sie waren zu kurz,“ berichtete Anne, an meiner Seite dahintänzelnd.

„Und schottische Schärpen, Tante Minnie,“ ergänzte Marie, „nicht, Anne?“

Anne nickte. „Und Handschuhe, Tante, weiße, gewebte Handschuhe, Mutter sagt, das sind die feinsten – nicht, Mite?“

Marie nickte nun ihrerseits. „Ja, – und – und –“

„Und dreißig Pfennig bekommt jedes, um sich selbst Kuchen zu kaufen,“ erklärte Fritz, der meine schwere Plaidtasche vor uns hertrug, sich triumphierend nach mir umwendend, aber in dem ganz gelassenen Tone des gereiften Jünglings.

„Es ist wohl nicht möglich, Fritz, so schrecklich viel Geld?“

„Ja, für Kuchen – bei der Kuchenfrau – nicht, Anne?“ belehrte Mite.

„Ja, und um Drei fängt es an – nicht, Mite?“

„Ja, und bis Sieben dürfen wir tanzen. Du, Tante,“ sagte Mariechen, plötzlich nachdenklich und ernsthaft werdend, „du hast doch wohl dein weißes Kleid mitgebracht?“

Ich fing an zu lachen. „Sollte ich etwa von Drei bis Sieben mittanzen, Mieze? Wenn das nur geht!“

„Du brauchst mich auch nicht gleich auszulachen,“ sagte Mieze ein bißchen gekränkt, „ich habe gar nichts Dummes gesagt. Wenn der Kinderball zu Ende ist, tanzen doch immer noch die Großen bis Zwölf und auch noch länger, alle richtigen Herren und Damen, weißt du, Tante, aber –“ und nun stockte sie errötend, „Tanten tanzen wohl überhaupt niemals mehr?“

„Das kannst du dir doch wohl vorstellen, daß Tanten nicht mehr tanzen,“ erklärte Anne überlegen, „sie sind zu alt – nicht, Tante?“

„Nun, ausnahmsweise tanzen auch so alte Leute in ganz besonders dringenden Fällen wohl einmal; diesmal wird aber wohl nichts daraus werden, denn an ein weißes Kleid habe ich wirklich nicht gedacht, Kinder. – So, da sind wir ja! Lotte, Liebste, wie geht’s, wie steht’s?“ Und ich lag Schwester Lotte, die mich an der Pfarrhausthür erwartet hatte, in den Armen.

Am Nachmittage gab es dann gleich alle Hände voll im Pfarrhause zu thun. Schwester Lotte hatte eine ganz herzerquickende Unverfrorenheit darin, gar keine Umstände zu machen und ihre Gäste nützlich zu beschäftigen, und sie hatte deshalb fürsorglich, „damit ich mich gleich recht heimisch fühlen möchte“, die bewußten weißen Kleider für die Zwillinge Anne und Marie zum Plätten für mich zurückgelegt.

Dabei klärte mich Lotte denn darüber auf, daß ich allerdings wohl Gelegenheit haben würde, nach Schluß des Kinderballes auch noch ein Tänzchen zu machen, daß aber Balltoilette dafür durchaus unpassend und nur für die Backfische nötig wäre, und daß ein heller Sommeranzug völlig genüge. Bekannte hatte ich genug im Städtchen, um auf Tänzer rechnen zu dürfen, „und sehen lassen kannst du dich ja“, meinte Lotte mit schwesterlichem Stolz, was eigentlich ganz gegen ihre sonstigen pädagogischen Grundsätze war, die sie mir gegenüber zu befolgen pflegte.

Als der großartige Ballstaat fertig am Kleiderhaken hing, stand schon die Jugend ungeduldig trippelnd auf dem Flur, mit Hüten und Jacken angethan, denn Tante Minnie hatte versprochen, einen weiten Spaziergang mit den Kindern zu machen. Diese Spaziergänge durch die Felder machten mir ebensoviel Freude wie den Kleinen, da diese die ganze Gegend gründlich kannten und mir schon manchen hübschen Platz gezeigt hatten.

Heute wollten wir nach einem kleinen, nahe gelegenen Teich wandern, um dort einige späte Wasserblumen zu holen. Die Zwillinge hielten mich an den Händen gefaßt, der Sextaner Fritz schritt würdevoll voraus, sich nur dann und wann nach uns umwendend, um in überlegener Weise eine Bemerkung in unser Gespräch einzustreuen. Ein Endchen vor uns her ging ein Herr, nach Gang und Haltung schien er jung zu sein.

„Tante,“ flüsterte Fritz geheimnisvoll, verstohlen mit dem Finger auf den Herrn zeigend, obschon uns dieser den Rücken zuwendete, „weißt du, wer das ist?“

„Bedaure, Fritz, nein, ich habe nicht die Ehre.“

„Das ist mein Lehrer!“ hauchte Fritz.

„I was, Fritz,“ flüsterte ich zurück, ohne daß mich die Mitteilung gerade übermäßig interessiert hätte, „dein Klassenlehrer?“

Fritz nickte. „Ja, das heißt, weißt du, Tante, eigentlich ist ja Dr. Boie mein Klassenlehrer – der kleine, dicke, weißt du –, aber der ist jetzt krank, und nun ist dieser so lange hergekommen, um uns Stunden zu geben. Nachher geht er wieder weg.“

„Aha, als Stellvertreter, ich verstehe schon. Mögt ihr ihn denn leiden, oder ist er nicht nett?“ erkundigte ich mich weiter.

„Ach, ich weiß nicht, einige mögen ihn leiden und einige nicht. Ich mag ihn leiden, denn, weißt du, Tante,“ sagte Fritz und sein hübsches Kindergesicht bekam plötzlich einen Ausdruck, für den ich ihn hätte küssen mögen, wenn dies nicht gar zu sehr unter seiner Würde gewesen wäre, „er ist so gut gegen die allerdümmsten, Tante, die nicht gut lernen können, mit denen hat er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0118.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2020)