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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

ist zurückhaltend gerade an jenen Stellen, wo man mehr Auskunft wünschte: in der Geschichte der Jugend, in der Schilderung des Privatcharakters der Dichterin.

Diesem Mangel soll nun in der folgenden Darstellung abgeholfen werden. Sie schöpft aus einer großen Anzahl von Briefen, welche E. Marlitt schrieb oder empfing, aus Aufzeichnungen ihrer Schwägerin Ida John, Alfreds Gattin, und brieflichen Mitteilungen der Gräfin Zintha v. Topor-Morawitzky in Reichenhall, des Oberamtsrichters Kern in Marbach, des Dr. Arnold von Franque in München und des Professors Carl von Lemcke in Stuttgart an den Verfasser. Eine Dichterin, welche den weitesten Leserkreis zu fesseln verstand, ist einer solchen Darstellung würdig. Repräsentiert sie doch ein Stück deutscher Kulturgeschichte.

Das litterarische Urteil über E. Marlitt darf man heute, zwölf Jahre nach ihrem Tode (22. Juni 1887), wohl als abgeschlossen erachten. Das bedeutsamste und zutreffendste Wort über sie ist uns von Gottfried Keller durch einen zuverlässigen Zeugen überliefert worden.

Es war in der Tonhalle zu Zürich, wo der würdige Staatsschreiber gelegentlich gern bei einer Flasche Wein am „Professorentisch“ mit Johannes Scherr, Gottfried Kinkel u. a. abends zusammensaß.

Einmal kam die Rede auf die „Schriftstellerei aus Damenfedern“ und Kinkel spielte höchst ungalant auf die Retterinnen des Kapitols an. Da fuhr Gottfried Keller dazwischen: „Was, Geschnatter! es ist wahr, es schreiben viele, und sie werden die Männer bald ins Gedränge bringen – aber, das ist eben der Teufel, sie können was. Da will ich euch ’mal eine Geschichte erzählen, wie es mir hierbei ergangen:

Ich hörte einmal einen gewissen Autor entsetzlich auf die Marlitt schimpfen – er schrieb selbst Romane“ – setzte Keller mit einem boshaften Lächeln hinzu. „Wenn man derartig gegen jemand loszieht, muß etwas an der niedergedonnerten Person sein, dachte ich mir und ließ mir einen Band von der ‚Gartenlaube‘ kommen. Es stand die ‚Goldelse‘ darin. Nun, ich habe“, fuhr Keller nachdrücklich fort, „nicht allein diese Geschichte, sondern auch noch manche andere von ihr gelesen, und zwar von A bis Z, und habe keine Langeweile verspürt, im Gegenteil, ich habe das Frauenzimmer, die Marlitt, bewundert. Das ist ein Zug, ein Fluß der Erzählung, ein Schwung der Stimmung und eine Gewalt in der Darstellung dessen, was sie sieht und fühlt – ja, wie sie das kann, bekommen wir alle das nicht fertig. Wir wollen nur nicht ungerecht sein und der Schwächen wegen, die sie auch hat, ihr das Wegstreiten! –

Und dann noch eins!“ sprach Keller in großem Ernste weiter – „es lebt in diesem Frauenzimmer etwas, das viele, schriftstellernde Männer nicht haben, ein hohes Ziel; diese Person besitzt ein tüchtiges Freiheitsgefühl und sie empfindet wahren Schmerz über die Unvollkommenheit in der Stellung der Weiber. Aus diesem Drang heraus schreibt sie. In allen Romanen, die ich von ihr gelesen habe, war immer das Grundmotiv, einem unterdrückten Frauenzimmer zu der ihr ungerechterweise vorenthaltenen Stellung zu verhelfen, ihre Befreiung von irgend einem Druck, damit sie menschlich frei dastände – und hierin besitzt die Person, die Marlitt, eine Kraft, das durchführen zu können, eine Macht der Rede, eine Wortfülle, eine Folgerichtigkeit in der Entwicklung ihrer Geschichten, daß ich Respekt vor ihr bekommen habe. – Setzt die Marlitt nicht herunter,“ schloß Keller die für ihn so ungewöhnlich lange Rede. „In dem Frauenzimmer steckt etwas von dem göttlichen Funken, und das erkennen alle an, die reinen Herzens sind, vorab die Jugend.“

Den wesentlichen Kern, auf den es in allen Marlittschen Romanen ankommt: den Kampf eines Weibes um seine Freiheit, hat Gottfried Keller hier so treffend herausgehoben, daß es keiner besser vermöchte.


1.

„Ich hänge mit inniger, fast möchte ich sagen, fanatischer Liebe an meinen Angehörigen, zu der sich, meinem Vater gegenüber, noch eine tiefe Verehrung gesellte.“ So schrieb Eugenie John an eine Freundin, als sie ihr für den Ausdruck der Teilnahme nach seinem Tode dankte. Wenn schon in der Lebensgeschichte jedes bedeutenden Menschen die Kenntnis seiner Herkunft und Familie von Wichtigkeit ist, so ist sie es doppelt in der Geschichte einer dichtenden Frau, denn des Weibes Schicksal wird noch mehr als das Leben des Mannes von seiner Familie bestimmt.

E. Marlitt hatte in ihrem ganzen Leben keinen höheren Wunsch als den, ihre Angehörigen durch die Bethätigung ihrer Fähigkeiten sorgenfrei und angesehen zu machen; alle Zärtlichkeit, die in ihrem jungfräulichen Herzen in reichem Maße wohnte, hatte sie zuerst den Eltern, dann den Geschwistern, dann den Kindern dieser Geschwister gewidmet.

Eugeniens Vater, Ernst John, geboren 1793 in Arnstadt, gestorben 19. Juni 1873 daselbst, war der Sohn eines angesehenen Kaufmanns und wurde selbst Kaufmann. Doch hatte er zu allem mehr Talent als zu diesem Beruf. Ein Mann von geistigen Bildungsbedürfnissen und künstlerischen Neigungen, eine einfache, edle, strebsame, aber auch verschlossene und in sich abgerundete Natur, interessierte sich Ernst John viel mehr für Sternkunde, Litteratur und insbesondere für Malerei als für den Handel.

„Er war begabt nach vielen Seiten hin“ – schrieb die Tochter über ihn – „und deshalb freilich von manchen seiner Zeitgenossen, den Ackerbürgern seiner Vaterstadt, als ein Genie scheu von der Seite angesehen. Ein Spaziergang neben ihm, in den Zeiten seiner Rüstigkeit, war für mich der höchste Genuß – es gab viel Anknüpfungspunkte zwischen uns …“ Am 29. März 1823 heiratete er die schöne und auch geistig begabte Johanna Böhm, Tochter eines der angesehensten Kaufleute in Arnstadt. Ihr Vater war Meister vom Stuhl der Freimaurerloge dieser Stadt, als Mann von Charakter allgemein geachtet. In der Franzosenzeit (1813) hatte er aber sein Vermögen eingebüßt; was die Familie noch besaß, gehörte seiner Gattin. Mutter Böhm war eine schöne, aber stolze und kalte Frau. Sie hatte ihre Tochter auf großem Fuß erzogen, auch musikalisch ausbilden lassen, und für die Verbindung mit Ernst John, die erst nach längerer Werbung mit schwerem Herzen zugestanden wurde, war sie nicht sehr eingenommen: ihre Tochter war zu höheren Zielen erzogen worden. Als sich nun bald nach der Heirat, beim Anwachsen der Familie, materielle Sorgen im Johnschen Hause fühlbar machten, da hatte die gestrenge Großmutter lange kein Erbarmen und half nur sehr spärlich in der Not.

Sie ist das Urbild der harten Frau Helbig im „Geheimnis der alten Mamsell“.

Eugenie kam am 5. Dezember 1825 in Arnstadt, als zweite Tochter, zur Welt. Die erste hieß Rosalie. Es kamen dann noch drei Brüder nach: Hermann, Alfred und Max. Alle Kinder hatten von den Eltern teils die musikalischen, teils die dichterischen oder künstlerischen Talente geerbt. Rosalie verfiel aber später in Nervenleiden. Hermann und Max wurden Techniker, Alfred Philolog. Nach der Geburt des zweiten Sohnes Alfred machte Vater John Bankrott, und damit war sein finanzieller Ruin öffentlich kundgeworden.

Zu jener Zeit bedeutete Bankrott nicht bloß Not, sondern auch Schande. Nun thaten sich die Verwandten Johns zusammen und verhalfen ihm dazu, sich in der geliebten Malerkunst so weit auszubilden, daß er sich durch sie einen Erwerb sichern könnte. John ging nach Dresden, studierte dort, indes seine Familie in Arnstadt zurückblieb. Als er zurückkam, konnte er Porträts in allen Größen, in Oel- und Wasserfarben, auf Leinwand und Elfenbein malen, aber in dem kleinen Arnstadt war nicht viel Kundschaft für künstlerische Aufträge, und selbst die Malerei von Ladenschildern war nicht einträglich. Es kamen viele Jahre bitterer Not für die Familie. In einem kleinen Gartenhäuschen, dessen dünne Mauern nicht genügend Schutz gegen Kälte und Feuchtigkeit boten, mußte sie sich lange Zeit bequemen. Oft fehlte es den Kindern an warmen Kleidern. Um nicht zu sehr zu frieren, pflegte die kleine Eugenie in die Schule mehr zu laufen als zu gehen.

Sie war ein auffallend schönes und liebenswürdigen Kind: die dunklen Haare ringelten sich in natürlichen Locken, die Augen waren blau, und immer war sie munter, zu Schelmereien aufgelegt, anstellig und behend.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0146.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)