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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

hin und wieder begegnete. Gewöhnlich befand sie sich dann in Gesellschaft der Damen Perraul. Diesen begegnete Detlev fast täglich im Flur, auf der Treppe oder auf der Straße. Wie früh er auch aufstehen mochte, um sich nach dem Exerzierfeld oder in die Kaserne zu begeben, die alten Fräulein waren ihm doch schon zuvorgekommen und kehrten bereits von ihrem Ausgang heim. Beide Schwestern waren dicke kleine Personen mit runden Gesichtern und blanken Aeuglein, gehüllt in dreieckig gefaltete Umhängetücher von mattem schwarzen Kaschmir und mit haubenähnlichen schwarzen Hüten, die innen weiße Krausen hatten und rückwärts mit langwallenden Trauerschleiern versehen waren. Zwischen diesen rundlichen trippelnden Gestalten erschien Marguérite noch schlanker und größer als sie thatsächlich war. Einigemal war Detlev bereits mit stummem Gruße vorübergegangen. Marguérite dankte stets mit ruhiger Freundlichkeit, und auch die beiden alten Fräulein ließen es nicht an Höflichkeit fehlen. Der Feind sollte ihnen nicht nachsagen, daß man „in Frankreich“ keine Manieren habe. Es kam Detlev übrigens vor, als betrachteten ihn die beiden alten Mädchen nicht ohne Interesse. Sie schienen ziemlich neugierig zu sein, was bei ihrem leeren Leben nur begreiflich war. Und eine der beiden Schwestern wurde denn auch, obwohl unabsichtlich, die Ursache, daß er die Damen ansprach.

Der schöne Herbstmorgen war kaum noch angebrochen. Ueber dem Flusse, der neben der Straße floß, schwebte Nebelhauch, und zarte graue Schleier umzogen den nur tief unten im Osten von der aufsteigenden Sonne goldig gefärbten Himmel. Auf der Straße rasselten Lastwagen in schläfrigem Tempo vorbei, und nur hie und da verriet ein vereinzeltes Peitschenknallen oder ein Zuruf, daß wenigstens der Kutscher wachte.

Detlev war eben aus dem Hausthore getreten, als er die drei schwarzen Gestalten erblickte; Marguerite war etwas voraus, und an ihr war er denn auch bereits vorüber, als eine der Schwestern, durch einen vorübergehenden Jungen angestoßen, ihr Gebetbuch fallen ließ, das gerade vor Detlevs Füße flog.

Er bückte sich, hob es auf und reichte es ihr, die es mit einem so tiefgefühlten: „Merci, oh merci, Monsieur!“ empfing, als habe er ihr den größten Dienst erwiesen. In demselben Augenblick blieb auch Marguérite stehen und drehte sich um. „Wollen Sie die Güte haben, gnädiges Fräulein,“ wandte er sich an diese, „mich meinen Nachbarinnen vorzustellen?“

Marguérite kam seinem Wunsch sofort nach: „Monsieur de Bode, Mesdemoiselles Octavie und Célestine Perraul. Die Damen sprechen aber nicht deutsch.“

„Zu swer, das Deutsche, Monsieur, viel zu swer!“ sagte Célestine. „Eine unmögliche Sprache! Ich wundere mich, wieso die Deutschen selbst sie erlernen können.“

„Nun, wenn man sie in der Kindheit lernt,“ meinte Octavie. „Aber als wir zur Schule gingen, brauchte man noch kein Deutsch in Metz.“

„Man kann auch jetzt noch ohne Deutsch hier auskommen,“ fiel Célestine ein.

„O, was das betrifft, auch ohne Französisch!“ Es war Marguérite, die lächelnd diese Worte geäußert hatte.

„Gewiß,“ bekräftigte Detlev mit einem dankbaren Blick. „Ich kenne Kameraden, die jahrelang hier leben und kein Französisch verstehen, aber die meisten von uns sprechen es doch mehr oder weniger leidlich.“

„Oh, Sie sprechen recht gut!“ versicherte Fräulein Octavie duldsam.

„Es fehlt mir an Uebung.“

„Die können Sie hier leicht erwerben“, meinte Marguérite.

„Nicht so leicht. Der einheimische Teil der Bevölkerung schließt sich von den Offizieren und Beamten zumeist ab. Man verkehrt bloß untereinander, und da ist die Umgangssprache Deutsch. Die Damen waren schon so früh in der Kirche,“ brach er ab. „Im Dom?“

„Nein, bei Sankt Vincent.“

„Auch diese Kirche ist alt und schön. Ich besuchte sie bereits.“

„Aber wohl nicht zum Gottesdienst?“ fragte Celestine. „Monsieur ist natürlich Protestant. Da haben Sie ja Ihre Kirche sehr nah’.“ Und sie drehte den Kopf nach der Richtung, wo der Turm der Protestantischen Kirche in die Luft ragte. In ihrem Blick lag eine Mißbilligung, die Detlev innerlich belustigte

„Ich gehe nicht in diese Kirche, sondern in die Garnisonskirche jenseit des Wassers.“

„Vor dem Französischen Thore,“ ergänzte Fräulein Marguérite. „Beide Kirchen sind hübsch gebaut, aber ein wenig zu – neu. Ich weiß nicht, warum ich die Idee habe, daß es sich in neuen Kirchen schlecht betet.“

„Sie mögen recht haben, mein Fräulein. In alten Räumlichkeiten findet sich mehr Stimmung.“

„Sind Sie mit Ihrer Wohnung zufrieden, Monsieur?“ fragte da Fräulein Marguérite.

„Sehr zufrieden. Ich liebe den Ausblick auf den Fluß und in die Ferne, den sie gewährt.“

„Aber der Lärm! Die vielen Fouragewagen und Soldaten, die täglich vorbeiziehen!“ klagte Célestine. „Es ist entsetzlich! Madame Dormans hat recht, daß sie nur nach dem Hofe hinaus wohnen will.“

„Mich stören die Wagen und Soldaten natürlich nicht!“ erklärte Detlev. „Es ist jetzt eine bewegte Zeit. Herbstübungen ohne Ende. Später wird es wieder ruhiger,“ setzte er tröstend hinzu.

Die beiden Schwestern seufzten zu gleicher Zeit in demselben ungläubigen Tonfall, wären aber doch wohl noch länger stehen geblieben, wenn Marguérite sich nicht jetzt mit einer Kopfneigung verabschiedet hätte, und so folgten sie ihrem Beispiel, und alle drei verschwanden im Hause.

Detlev ging die Straße hinab, der Moselbrücke zu, sich innerlich die Worte des jungen Mädchens wiederholend. Es schien nicht, als ob sie in dem engherzigen Chauvinismus der anderen befangen sei. Alles hatte freundlich und freimütig geklungen, ohne verbissene Gehässigkeit zu verraten. Er glaubte auch trotz ihres fleißigen Kirchenbesuches nicht, daß sie die Bigotterie der Schwestern Perraul teile. Indessen, was ging es ihn an, ob sie dies war oder jenes!

Die drei Damen traten zusammen bei Madame Dormans ein, die noch im Bette lag, aber nicht mehr schlief, und die Schwestern Perraul erzählten sofort von ihrer Begegnung.

„Wir haben mit Ihrem Mieter gesprochen,“ begann Octavie.

„Und denken Sie sich, er ist gar nicht so übel für einen Ketzer und Preußen,“ fügte Célestine lebhaft hinzu.

Die grämliche Dame empfing dieses Bekenntnis mit Hohn und Spott, und als die Schwestern, in ihrer Stimmung sehr ernüchtert, sich empfohlen hatten, sagte sie herb zu Marguérite: „Was dich betrifft, so bitte ich dich, dem Preußen keine Gelegenheit mehr zu geben, mit dir zu sprechen.“

„Es wird sobald nicht wieder vorkommen, Mama,“ erwiderte die Tochter ergeben.

Erst viele Wochen später war es, daß Detlev, in die Buchhandlung und Leihbibliothek, wo er abonniert war, eintretend, Marguérite Dormans bemerkte, die vor dem Ladentisch stand und einige Bücher durchsah. Sie legte eben zwei davon für sich beiseite, als er neben sie trat. Es schien ihm, daß sie bei seinem Anblick zusammenschrecke, wobei ein leichtes Rot in ihre sonst blassen Wangen stieg; doch faßte sie sich bald und beantwortete seinen Gruß mit der freundlichen Gemessenheit, von der er noch immer nicht wußte, in wie weit sie nur eine Maske der Höflichkeit war.

Marguérite reichte dem Gehilfen gerade die gewählten Bücher, damit er sie eintragen könne.

„Die Waffen nieder!“ las dieser laut und schrieb die Titel auf.

„Fräulein lesen also auch deutsche Autoren?“ fragte Detlev nicht ohne Erstaunen.

„Warum nicht?“ fragte Marguerite zurück. „Wir leben so eingezogen, daß wir auf Lektüre angewiesen sind, und unter unseren Autoren sind sehr viele, von denen meine Mutter nicht wünscht, daß ich sie lese. Deshalb muß ich nach deutschen Büchern greifen. Die deutschen Schriftsteller schreiben mehr für die Familie, für junge Mädchen.“

„Alle doch nicht! Wer berät Sie in Ihrer Wahl?“

„Meine Mutter versteht selbst genug Deutsch, um meine Lektüre zu überwachen …“

„In der That?“

Das stimmte wenig zu dem Bild, das er sich von dieser Frau gemacht hatte.

„Um dies zu thun, muß sie die Bücher auch lesen.“

„Das thut sie fast stets. Meine Mutter schläft häufig nicht,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0159.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2020)