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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

und dann liest sie, was ihr zur Hand ist … Deutsche Bücher mit Vorliebe. Sie behauptet, daß sie dabei leichter einschläft …“

„Sie findet sie also langweilig?“

„Nun, vielleicht machen sie sie bloß schläfrig, weil sie mehr Anstrengung von ihr fordern als französische Bücher ...“ Bei diesem Zugeständnis zeigte Marguérite ein reizend sanftes Lächeln.

„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, den deutschen Schriftstellern diese Ehrenerklärung zu geben … Ich besitze selbst eine größere Bücherauswahl. Wenn Sie mir erlauben würden, Ihnen und Ihrer Frau Mama einige Bücher zur Verfügung zu stellen, so würde ich solche wählen, die die Damen nicht langweilen sollten.“

„Dann würden sie ihren Zweck verfehlen, da Mama sie doch als – Schlafmittel gebraucht. Uebrigens besten Dank! Wenn es uns einmal an Büchern fehlen sollte, werden wir von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen.“

Sie schien sich’s vorzuwerfen, daß sie mit dem Deutschen gescherzt hatte, denn sie wurde gleich wieder sehr ernst, aber er hatte nun doch gesehen, wie gut ihr es stand, wenn sie lächelte.

„Madame Dormans geht noch immer nicht aus?“ fragte Detlev teilnehmend.

„Seit zwei Monaten war sie kaum dreimal an der Luft.“

„Und dabei hatten wir einen so schönen Herbst!“ rief Detlev bedauernd. „Ich durchstreifte die ganze Gegend… Ich glaube, ich kenne mich jetzt aus wie ein Einheimischer.“

„Besser als ich jedenfalls. Für mich ist es eine Reise, wenn ich nach Devant les Ponts komme …“

Er schüttelte mißbilligend den Kopf. „Das ist eine schlechte Hygieine für Sie, mein Fräulein, und auch für Ihre Mutter. Ist sie denn wirklich so krank, daß sie nicht ausgehen kann?“

„Der Arzt rät ihr immer dazu, mehr Luft zu schöpfen, aber sie geht nicht gern aus. Dieses Zuhausebleiben ist bereits eine langjährige Gewohnheit, und dagegen kämpft man schwer an.“ Sie schloß plötzlich die Lippen, nahm ihre Bücher und verabschiedete sich ziemlich unvermittelt von Detlev, als bereute sie, daß sie sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen hatte.

Als er seinerseits die Buchhandlung verließ, war er innerlich wütend, wie man es über Mißstände ist, die man kein Recht hat, abzuschaffen. Er ahnte, daß Madame Dormans sich den Zimmerarrest angewöhnt hatte, weil sie keine Deutschen sehen wollte. Wohl, mochte sie sich eigensinnig in ihre vier Wände vergraben, aber daß das junge Mädchen dieses Gefängnisleben teilen mußte, das war doch zu toll! Allein vergeblich sann er darüber nach, wie hier Abhilfe zu schaffen sei.

*      *      *

Wenige Tage später stand Detlev eines Nachmittags am Fenster und sah gedankenlos auf die Straße hinab, auf der wie gewöhnlich Lastwagen und militärische Fuhrwerke knarrend und staubbedeckt vorbeizogen. Plötzlich rollte eine Droschke heran und hielt vor dem Hause. Detlev konnte den darin Sitzenden deutlich sehen, denn es war ein offener Wagen. Bei ihm selbst waren die Winterfenster noch nicht eingesetzt worden, und die tief herabgehenden, fast thürenartigen französischen Fenster ermöglichten es ihm, auf die Straße hinabzuschauen, ohne daß er sich dabei besonders vorzubeugen brauchte. Da der Scheibenvorhang zurückgezogen war, konnte Detlev auch von unten aus leicht gesehen werden, und die männliche Gestalt, die aus dem Wagen stieg, blickte denn auch in ziemlich auffallender Weise zu Detlevs Fenster empor. Dann legte der Angekommene eine schon ergriffene Handtasche mit einer Gebärde des Unmuts wieder auf die Wagenkissen zurück, warf auch noch den Mantel dazu, in den er gehüllt gewesen war, schloß den Wagenschlag und verschwand, nachdem er den Kutscher durch eine Handbeweguug entlassen hatte, im Hausflur. Detlev hatte beobachtet, daß der Mann klein und schmächtig war, buschige Augenbrauen und eine scharf ausgeprägte französische Physiognomie hatte. Er hörte ihn nun die Treppe heraufkommen und an der Glasthüre, die zur Dormans’schen Wohnung führte, anklopfen. Die Thüre ging auf, und er vernahm ein heiteres „Me voilà“ von einer nicht unmelodischen Tenorstimme. Dann ward es still, und für Detlev stand nur eins fest: die Damen Dormans hatten Besuch bekommen … Er versuchte es, sich an seine Arbeit zu machen, aber er war seltsam zerstreut und unruhig. So schlug er das Buch zu, schnallte den Säbel um und beschloß, auszugehen. Als er abends nach Hause kam, fand er Stefan mit seinen abendlichen Obliegenheiten beschäftigt. Der Bursche wußte immer alles, was im Hause vorging. Detlev brauchte nur eine Frage hinzuwerfen, um alles zu erfahren, was er wissen wollte. Der Ankömmling sei ein Franzose aus Nancy, berichtete Stefan. „Der Sohn einer Jugendfreundin der Madame … Die Eltern sollen sehr reiche Leute sein, Herr Leutnant. Seidenzeug fabrizieren sie, sagt Madame Schoß … Und der Mossiöh ist der einzige Sohn … Er kommt oft her, denn er reist für seinen Papa … Mir scheint, mir scheint –“ Stefan kraute sich den Kopf, „er hat es auf das schöne blonde Fräulein abgesehen.“

„Woraus schließest du das?“ fragte Detlev scharf.

„Ach, Herr Leutnant, wegen der kranken Madame möchte sich der junge Herr nicht so häufig herverfügen. Da müßten wir doch die Männer nicht kennen!“ Er blinzelte verschmitzt nach Detlev hin. Der Herr Leutnant schien aber an dem Spaß keinen Geschmack zu finden und verabschiedete den Getreuen sehr kurz …

Daß der Franzose den Abend bei den Damen verbrachte, bewies der Lichtschein, welcher aus der Glasthüre der Dormans’schen Wohnung auf den Flur fiel. In dem Empfangszimmer, zu dem diese Thüre führte, war sonst des Abends selten Licht.

Detlev hörte später auch den Gast fortgehen. Es war etwa gegen zehn Uhr, als er das Oeffnen der Thüre und die helle Männerstimme vernahm. Der junge Mann empfahl sich ziemlich geräuschvoll und sprach so laut, daß er Detlev in die Verabredung einweihte, die er mit den Damen Dormans traf. Er wollte sie morgen nachmittag zu einer Spazierfahrt abholen. Nun, das ließ sich ja hören! Dabei kam das junge Mädchen doch wieder einmal an die Luft! Detlev war nicht zu Hause, als die drei wegfuhren, aber abends, als es schon dunkelte, hörte er den Wagen vors Haus rollen. Sie hatten also nicht nur eine Spazierfahrt, sondern einen förmlichen Ausflug gemacht … Auch der Lichtschein fiel abends wieder auf den Flur, doch ging der Franzose heute früher weg als gestern, und seine Abschiedsworte tönten nicht gar so laut durch das Haus.

Des anderen Tages, als Detlev vom Exerzierfeld nach Hause kam, stieß er just auf den Gast seiner Hausdamen, der eben aus dem Thore trat. Heute sah er ihn genau. Obwohl er klein und schmächtig war, fand Detlev sein Aeußeres nicht unvorteilhaft. Seine Figur war zierlich und seine Kleidung ausnehmend elegant. Er trug einen hohen Cylinderhut, der seine Figur etwas größer scheinen lassen sollte, aber beinahe die entgegengesetzte Wirkung hervorbrachte, und hatte ein blasses, volles und doch fein gezeichnetes Gesicht, dessen Kinn und Wangen bläuliche Schatten umgaben. Auch seine schwarzen Augen schwammen in einem bläulichen Schimmer, der den Blick überaus wirksam hob. Jetzt, im Vorbeigehen, schossen sie freilich nur einen spitzig kalten, feindseligen Blick auf den deutschen Offizier, dessen hohe Figur, breite Brust und offenes männliches Gesicht einem von dem seinen so völlig verschiedenen Typus entsprachen. Mit kleinen schnellen Schritten ging der Franzose dann vorüber. Detlev sah ihm über die Achsel nach. Ein recht hübscher Mensch! dachte er. Nicht nach unserem Ideal, aber seinen Landsmänninnen wird er ohne Zweifel gefallen. Ob auch ihr?

Unerwarteterweise wurde Detlev am selben Abend Gelegenheit, den Fremden mit den Dormans zusammen zu sehen.

Im Theater war nämlich französischer Opernabend. Allwöchentlich einmal kam aus Belgien eine französische Gesellschaft herüber, die schon seit Beginn der Saison das Publikum durch die Vorführung „nationaler“ Werke zu erfreuen strebte. Daß unter den aufgeführten Opern auch solche waren, deren reines Franzosentum einigermaßen bestritten werden konnte, wurde dabei von den Darstellern sowohl wie von den Zuhörern einfach übersehen. Die allernationalsten Schöpfungen, welche die Belgier zur Aufführung gebracht hatten, waren bis jetzt die „Hugenotten“ und „Mignon“ gewesen. Meyerbeer galt ja selbst den wütendsten Chauvinisten als Vollblutfranzose, und daß Ambroise Thomas mit seinem Operntext eine Anleihe jenseit des Rheins gemacht hatte, das kam wenig in Betracht. Nun gelangte heute als dritte im Bunde der unanfechtbar französischen Opern Gounods „Faust“ an die Reihe.

Zu den wenigen Offizieren, die bei den französischen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0160.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2020)