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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.
(5. Fortsetzung.)


10.

Ueber den schattenschwarzen Bergwald sank schon die Sonne hinunter, als Ettingen mit dem Förster wieder im Jagdhaus eintraf.

Pepperl, der auf der Schwelle des Försterhäuschens gesessen, hatte sich, als er die beiden kommen sah, erhoben und die Füße geschüttelt, als wären sie ihm eingeschlafen. Das Viertelstündchen ausgenommen, das er um die Mittagszeit in der fürstlichen Küche verbrachte, hatte er vom Morgen bis zum Abend auf seinem Lauerposten ausgehalten, mit dem „Geheimnis von Woodcastle“ auf den Knien. In all diesen sieben Stunden war er bei der Lektüre nur um ein einziges Kapitel vorwärts gekommen aber der Miene, mit welcher er die Hefte jetzt in die Schublade warf, konnte man es ansehen, daß er mit dem Ergebnis des Tages nicht unzufrieden war. Nicht das Geringste war geschehen, was die „Verantwortigung“ seiner moralischen Seele nur im mindesten belastet hätte. Wohl hatte Martin ein paarmal recht verdächtige Spaziergänge im Umkreis der Sennhütte unternommen, aber ein freundlicher Zuruf des Praxmaler-Pepperl hatte den Kammerdiener immer wieder zur Umkehr nach dem Fürstenhaus veranlaßt.

So konnte Pepperl, als der Förster in die Hütte trat, seinen Vorgesetzten in bester Laune empfangen. „Grüß Gott, Herr Förstner! Schon wieder daheim? Das is recht! Jetzt kann ich g’rad’ noch ein bißl Dienst machen bis auf d’ Nacht … jetzt is ja der Fürst wieder da!“

Der Förster schien den Zusammenhang zwischen Pepperls Diensteifer und der Heimkehr des Fürsten nicht recht zu begreifen und blickte etwas verwundert dem Jäger nach, der, einen Ländler pfeifend, seine Büchse nahm und mit merkwürdig leichten Schritten hinauswanderte in den schattigen Wald. —

Der Abend war so lind, so still und schön mit seinem klaren Himmel und seinen funkelnden Sternen, daß Ettingen bis spät in die Nacht vor dem Jagdhaus saß, wobei er sich vom Förster und von Pepperl, der mit Einbruch der Dunkelheit von seinem Schutzgang wieder heimgekehrt war, fröhliche Gesellschaft leisten ließ. —

Zwei Tage vergingen. Ettingen hatte keine Lust, eine Birsche zu unternehmen. Er wollte ruhen, wie er sagte. Das hinderte nicht, daß er an jedem Morgen zeitig munter war und einsam einen mehrstündigen Schlendergang durch den Bergwald machte. Am Nachmittag saß er mit einem Buche im Wald, und die Abendstunden verplauderte er mit den Jägern.

Auch der Almhütte stattete er mit dem Förster einen Besuch ab und saß über eine Stunde lang bei der Sennerin, die ihm ihre Arbeit schildern mußte. Das scheu gedrückte Wesen des Mädchens fiel ihm auf, so daß er fragte: „Haben Sie eine Sorge, Burgi?“

„Ich? Und Sorgen? Gott bewahr’! ’s Vieh is g’sund … was will ich denn mehr?“

„Sie sind nicht heiter! Wenn ich Ihnen helfen kann, thu’ ich es gern. Haben Sie etwas auf dem Herzen?“

Sie wurde rot bis unter die Haare, aber gleichmütig sagte sie: „Ich? Auf’m Herzen? Den Janker! Sonst nix! Aber no, der Mensch kann net allweil lustige Fasnacht halten. Diemal muß er auch sein’ sinnierlichen Tag haben. Und so ein’ hab’ ich halt heut’ g’rad’ … weiß selber net, warum!“ –

Am dritten Morgen unternahm Ettingen mit dem Förster einen Birschgang auf Gemsen. Pepperl, der zwei Tage strengen Dienst gemacht hatte, blieb an diesem Morgen zu Hause … „man kann net wissen, ob net d’ Jungfer Köchin oder der Herr Martin wen braucht“ – und hielt auf der Hüttenschwelle in brennender Sonne mit dem „Geheimnis von Woodcastle“ bis Mittag aus. Da kam der Postbote, und den fragte er: „He! Du! Was is denn mit’m Brentlinger? Hast ihm die Botschaft ausg’richt’t?“

„Ja.“

„Warum kommt er denn net?“

„Ich hab’ dir’s ja g’sagt: der Schnaps laßt ihn net aus. Heut’ in der Fruh’ hab’ ich ihn wieder troffen im Wirtshaus … da hockt er schon den dritten Tag!“

Pepperl fuhr sich mit dem Aermel über die Stirne, denn die Sonne hatte ihm eingeheizt, und in schwüler Sorge brummte er vor sich hin: „Mar’ und Josef! Mar’ und mein! Is das ein Mensch! Ein Vatter! Und hat ein Deandl, das in der ärgsten G’fahr is!“ Dann sagte er laut: „Geh’, ich bitt dich, red’ ihm noch einmal zu, daß er kommt. Sag’ ihm: es pressiert!“

Während die beiden noch miteinander sprachen, kam der Fürst von der Birsche zurück. Der Förster trug einen schweren Gemsbock auf dem Rücken. Und „Ein zweiter liegt noch droben,“ sagte er, „tummel’ dich, Pepperl, daß du ihn ’runter bringst vor Abend!“

Aber ehe Pepperl sich „tummeln“ konnte, gab’s vor dem Försterhäuschen noch ein langes, fröhliches Erzählen und Schwatzen über den Verlauf des glücklichen Birschganges.

War es die seltene Jägerfreude, zwei gute Böcke mit einer Dublette erlegt zu haben, war es die ungetrübte Stimmung der vergangenen Tage oder die reine Luft der hohen Berge, die an dem ernsten, blassen Flüchtling der Großstadt diese freundliche Wandlung bewirkt hatte – Ettingen war in so prächtiger, von Heiterkeit übersprudelnder Laune, daß die beiden Jäger ihre Freude an ihm hatten. Seine Augen blickten so klar und leuchtend, sein sonnverbranntes Gesicht hatte so gesunde Farbe, als hätte er nie die Luft der Krankenstube geatmet und als wäre auch die letzte Erinnerung an allen Sturm und Schmerz, vor dem er in die Einsamkeit der Berge geflohen, in ihm versunken und erloschen. Und wie kräftig sein Schritt war, wie stramm und frei seine Haltung! Als hätte ihm in den Adern ein neuer und heißer Trieb des Lebens jeden Tropfen seines Blutes befeuert. Er selbst schien dieser Wandlung, die sich in ihm vollzogen hatte, mit keiner Frage nachzuspüren. Er fühlte sie nur, wie man mit geschlossenen Augen die wärmende Sonne fühlt, war heiter und zufrieden, dachte mit keinem Gedanken an das Gewesene, hatte keinen Wunsch an die Zukunft und freute sich in dieser stillen Ruhe einer jeden Stunde, wie sie kam und ging.

Der folgende Tag aber brachte ihm den Lebensgewinn, den er im Frieden des Waldes gefunden hatte, doch zum Bewußtsein. Da kam mit der Post ein Brief – und als Ettingen an der Schrift der Adresse die Hand des Freundes erkannte, an den er in der ersten Nacht hier oben jene lange Epistel gerichtet hatte, zögerte er doch einen Augenblick, den Brief zu erbrechen. Dann aber schüttelte er lächelnd den Kopf.

„Mein Wald hat mich gesund gemacht! Und frei!“

Was dieser Brief auch enthalten mochte – es konnte seine Ruhe nicht mehr stören, ihm keinen Schmerz bereiten, keine Bitterkeit in seiner Seele wecken. Er hatte überwunden und vergessen, er war geheilt und frei – und wie nun auch die häßliche Katastrophe jener Tollheit ausklingen mochte, er konnte das so ruhig und gleichgültig anhören wie das schale Ende einer Geschichte, die ein anderer erlebt hatte. Er öffnete den Brief und las:

„Wien, den 30. Juli. 

 Mein lieber Heinz!

Du weißt: so stark ich unter Umständen für andere sein kann, wenn es meine eigenen Wünsche gilt, dann bin ich ein Schwächling. Und mein Wunsch wär’ es nun, Dir für Deinen lieben langen Brief recht ausführlich zu danken, mit Dir zu plaudern, Dich zu warnen und Dir zu raten. Aber das muß ich mir für den Tag versparen, der mich wieder zu Dir führt – und ich hoffe, das wird bald geschehen. Für heute geht’s nicht, mit dem besten Willen nicht, man thut mir Gewalt an! Vor kaum einer Minute hab’ ich mich zum Schreiben gesetzt, und da trommeln sie schon wieder an meiner Thür und kichern und schreien: Onkel Goni, was machst Du? Onkel Goni, wo bleibst Du? Onkel Goni, so komm doch! – Du mußt wissen, seit drei Tagen hab’ ich ‚Familie‘. Meine Schwester – ihr Mann ist zu den Jagden nach Steiermark abgesaust – hat ihre vier Jungen in die Ferien geholt, und da ist mir nun die liebe Seele mit ihrem tollen Viergespann unvermutet ins Haus gefahren, und die Jungen stellen mir meine friedliche Hütte auf den Kopf. Aber, ich lasse mich geduldig martern. Jugend zu sehen, das ist für mich immer wie eine neue, große Entdeckung. Das stimmt mich milde, nimmt meiner Borstigkeit jeden scharfen Stachel – aber es

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0166.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2023)