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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Detlev blieb stehen. War das Marguérite Dormans, die sich hier dieser Träumerei hingab? Dort, hinter jenem von Mauern gekrönten Berg, auf den sie blickte, lag das Land, zu dem sie sich bekannte und wohin sie bald dem Manne ihrer Wahl folgen würde. Sie starrte in die untergehende Sonne, dem von Goldglanz überstrahlten Westen zu, wie ein Pilger das gelobte Land betrachtet, das er demnächst zu betreten hofft. So wollte er denn vorübergehen, ohne sie aus ihrer Versunkenheit zu wecken.

Allein sein Säbel hatte geklirrt. Die schlanke Gestalt schauerte leicht zusammen, drehte sich um und erblickte ihn. Sie war blaß, sehr blaß und sah aus, als ob sie geweint hätte. Betroffen blieb er nun doch stehen. Er hatte sie in einem Augenblick überrascht, wo sie von keinem Menschen gesehen zu werden erwartete, allein er konnte nicht vorübergehen. „Erwarten Sie jemand?“ fragte er unbeholfen.

„Nein. Aber der Ausblick von hier aus ist so schön! Das war ein Lieblingsplätzchen von mir, seit ich groß genug bin, über die Mauer zu schauen.“

„Ja, die Aussicht ist schön,“ wiederholte Detlev. „Man sieht nach Frankreich hinüber oder glaubt es zu sehen. Aber warum haben Sie denn geweint?“

Sein Ton ließ sie aufblicken.

„Fehlt es mir an einer Ursache?“ fragte sie vorwurfsvoll.

„Ihrer Frau Mutter geht es doch wieder besser,“ erwiderte Detlev einlenkend. „Und für Sie kommen ja jetzt so schöne Tage.“

„Glauben Sie das selbst, was Sie da sagen, daß es meiner Mutter besser geht?“ fragte Marguérite zurück. „Nein, es ist nicht Ihre aufrichtige Meinung .. Ich sah, daß Sie neulich betreten waren bei ihrem Anblick.“

„Es war nur zu begreiflich, daß Madame Dormans an jenem Tage schlecht aussah,“ sagte Detlev tröstend. „Was sagt Ihnen der Arzt?“

„Nicht die Wahrheit natürlich. Aber ich ahne sie.“

„Sehen Sie nicht zu schwarz! Ihre Mutter scheint sich so sehr zu freuen über Ihre Verlobung. Vielleicht wird Ihr Glück auch ihr Leben verlängern. Und ich wünsche es Ihnen von Herzen, Fräulein. Sie sind geschaffen, glücklich zu sein und Glück zu geben. Aber volles Glück giebt doch nur die Liebe. Wenn Sie Ihren Verlobten lieben, bin ich über Ihr Schicksal beruhigt. Er wird Sie trösten, wenn Sie trostbedürftig sein werden, und seine Liebe wird Ihnen helfen, jeden Schlag zu verwinden. Aber wenn Sie ihm nicht von ganzem Herzen zugethan sind, wenn Sie ihn nur heiraten wollen, um Ihrer Mutter eine letzte Lebensfreude zu bereiten, dann – thun Sie’s nicht. Sie können ihr unmöglich so viel Glück geben, als Sie sich Elend bereiten!“

In Marguérites Zügen kämpfte es, als suchten zurückgehaltene Empfindungen gewaltsam nach einem Ausweg. Eine glückliche Braut hätte ihn nicht einen Augenblick in Zweifel gelassen. Marguerite antwortete jedoch nach einer Pause bloß ausweichend: „Ich muß Sie bitten, diesen Gegenstand nicht weiter zu verfolgen.“

Detlev verbeugte sich schweigend. Er wußte jetzt, daß sie den anderen nicht liebte, und doch, was half es ihm? Sie war deshalb nicht weniger Didiers Braut, und die Kluft zwischen ihnen schrumpfte dadurch nicht zusammen.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie hier gestört habe in Ihrer selbstgewählten Einsamkeit,“ murmelte er mit Anstrengung.

„Es scheint seltsam, daß ich hier so stehe, nicht wahr?“ versuchte Marguérite zu lächeln. „Aber zu Hause bin ich immer unter den Augen der Mutter, und wir mühen uns beide vergeblich, unsere Stimmung voreinander zu verbergen. Auch für sie ist es eine Erleichterung, wenn ich sie für kurze Zeit verlasse.“

Sie sprach so ruhig – offen zu ihm wie zu einem Freunde, und aus dem Klang ihrer Stimme glaubte Detlev zu erkennen, daß sie erriet, wie es um ihn stand.

„Wann reisen Sie?“ fragte sie, als er stummbewegt vor ihr stehen blieb.

„Heute abend ..“

„Dann wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise und frohe Festtage!“ Sie reichte ihm die Hand, die er schweigend nahm, darauf neigte sie das Haupt und ging hinweg, und er sah ihre Gestalt auf der sich nach abwärts neigenden Straße versinken. Auf dem ganzen Heimweg sah er Marguérite dann vor sich. Immer hob sich ihre Silhouette dunkel vom weißgrauen Winterhimmel ab. Er verlor sie nicht aus den Augen, aber er erreichte sie auch nicht. Wie das unerlangbare Glück schwebte sie vor ihm her. –

Mit dem Nachtschnellzug fuhr Detlev nach Norden und langte bei Tagesgrauen auf der Bahnstation an, von der man nach Rheinfeld, dem Gute seines Onkels, fuhr. Auf Rheinfeld fand er bereits Mutter, Schwester und Schwager vor, und einige Wochen gemütlichen Zusammenlebens harrten seiner. Doch bemerkte seine Familie, daß er nicht frohen Herzens unter ihnen weilte, sondern zerstreut und schweigsam war. Die übrigen Verwandten waren geneigt, anzunehmen, daß er im Dienst Verdruß gehabt habe, die Mutter jedoch erwies sich als scharfsichtiger, denn sie flüsterte dem Sohne beim Abschied die Worte zu: „Das nächste Mal, Detlev, bring’ dein Herz wieder mit.“ Sie hatte recht. Sein Herz war diesmal nicht mit daheim gewesen. Die innere Rastlosigkeit, die ihn während der Urlaubstage im Kreis seiner Lieben verzehrt hatte, schwand erst, als er wieder auf der Eisenbahn saß.

In seiner Wohnung war alles beim alten. Auch im Hause gab es nichts Neues. Madame Dormans sollte sich verhältnismäßig wohl befinden. Marguérite jedoch, die Detlev einige Tage nach seiner Rückkehr in dem dämmerigen Flur traf, antwortete auf seine Frage nur mit einer ausweichenden Gebärde.

„Sind Sie mir noch böse?“ fragte Detlev leise.

„Ich war es ja gar nicht!“

„Doch! Als wir uns das letzte Mal sahen, zürnten Sie mir.“

„Davon weiß ich nichts. Ich bin Ihnen nicht böse. Aber unsere Wege führen auseinander, weit auseinander, für immer!“

Sie wandte sich ab und verschwand hinter der Glasthüre. Detlev ließ sie wortlos gehen. Sie hatte ja recht. Am besten wäre es für ihn gewesen, das Haus zu verlassen. Noch konnte er sich aber nicht dazu entschließen, und doch mußte irgend eine Aenderung eintreten. Er fühlte es, es lag in der Luft.

*      *      *

Detlev saß in dem Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch und las trotz des schwachen Lichtes – es dämmerte bereits – in einer Zeitschrift. Draußen stürmte und schneite es, so daß die Fensterscheiben von den angeworfenen Flocken fast verdeckt wurden, hier innen jedoch war es ganz behaglich. Das Blatt sank Detlev aus der Hand, und er verfiel in unbestimmtes Brüten, als er plötzlich ein dumpfes Geräusch wie von einem Fall vernahm. Er legte demselben kein Gewicht bei, weil er voraussetzte, daß die Kinder von oben wieder einmal Springübungen machten, dem Geräusch folgte jedoch ein Hin- und Hereilen auf dem Flur, Thürenöffnen und Rufen, und in der nächsten Minute stürzte Stefan ins Zimmer mit dem Rufe: „Die Madame drüben stirbt!“

Vom Schreibtisch aufspringend, eilte Detlev seinem Burschen nach. Drinnen im Schlafzimmer kniete Marguérite auf dem Boden bei der leblos daliegenden Mutter, während Jeannette, die eben hereinstürzte, die kleine Hausapotheke an der Wand aufriß und alle dort aufgestellten Fläschchen durcheinander warf. Durch das Fenster, das Marguérite geöffnet haben mochte, um die Joß zu rufen, drang die kalte Luft wie feindlich ein, die dumpfe Zimmeratmosphäre verjagend.

Ehe Stefan ihm noch helfen konnte, hatte Detlev Madame Dormans vom Boden aufgehoben und nach dem Sofa getragen. Sie lag schwer in seinem Arm wie ein lebloser Körper, das Gesicht war verzerrt und leichenhaft gelb, die Augen starr offen. Wie Detlev sie niederlegte, kam Marguérite, schob ihn fort, riß der Mutter das Kleid auf und legte ihr Ohr an das Herz.

„Ich höre nichts!“ stammelte sie mit zitternden Lippen. Detlev hatte die Hand der Leblosen ergriffen: der Puls stand still. Eine unheilvolle Gewißheit überkam ihn. Doch rang er sich einige beruhigende Worte ab: „Es wird nur eine Ohnmacht sein!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0182.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2020)