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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

in dieser lähmenden Furcht, als wüßte sie keine andere Hilfe mehr, schrie sie den Namen ihres Bruders. Es war ein erstickter Laut, der kaum hinausklang über den Zaun des Gartens.

Mazegger lachte; ihre Furcht war eine Freude für ihn, die er genoß wie der Dürstende einen Trunk.

„Warum schreien Sie denn auf einmal dem Buben?“

„Weil ich Ihnen nichts mehr zu sagen habe,“ erwiderte sie, als hätte sie mit jenem Laut, den die Furcht ihr ausgepreßt, die verlorene Ruhe wiedergefunden. Sie wollte gehen. „Aber nein … ich habe noch eine Bitte an Sie … eine letzte. Wollen Sie noch ein paar Minuten bleiben?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zur Hütte, brachte einen Sessel und ein graues Buch.

Er stand noch immer auf dem gleichen Fleck und sah ihr mit verblüfften Augen zu, wie sie sich auf dem Sessel niederließ, das Buch öffnete – ein Skizzenbuch – und den Bleistift nahm.

„Was heißt denn das? Was wollen Sie denn?“

„Ich will Sie zeichnen,“ sagte sie ernst. „Dabei lernt man sehen … und das hilft. Ich habe das schon als Kind erfahren.“ Sie legte das Buch auf dem Tisch zurecht, und die Brauen furchend, blickte sie mit forschenden Augen zu dem Jäger auf.

Er schien nicht zu wissen, wie er das verstehen und was er thun sollte. Ratlos an seinem Barte zausend, ließ er sich auf die Bank nieder – und dann hielt er sich ruhig. Aber seine Augen brannten.

„So, ja, sehen Sie mich nur immer an!“

Das brauchte sie ihm nicht zu sagen, denn er ließ keinen Blick von ihr – aber wenn sie ihn ansah, so lange, so ruhig prüfend, dann ging aus ihren Augen etwas über auf ihn, das ihm das Blut in die Stirne trieb, und daß er aufatmete, wenn sie das Gesicht wieder senkte, um ein paar rasche, kräftige Striche in das Buch zu zeichnen. Ein paarmal zuckte es durch seine Glieder, als wollte er aufspringen – doch er blieb. Und ein andermal bewegte er wieder die Lippen, wie um zu sprechen – doch er schwieg. Die Sonne war lange schon hinuntergegangen, das ganze Seethal lag bereits von tiefem Abendschatten überwoben, und die Dämmerung begann.

Mit der langen schwankenden Angelgerte über der Schulter kam Gustl vom See herauf.

„Hast du was gefangen, Bubi?“

„Nein, Lo’, heut’ bin ich Schneider geworden. Aber weißt du, morgen giebt’s wieder das wunderbarste Wetter, denn heut’ beißen sie schon gar nicht!“

Freundlich nickte Gustl dem Jäger, den er nicht kannte, einen „Guten Abend“ zu, stellte die Gerte an die Hüttenwand, kam zum Tisch und wollte neugierig über die Schulter der Schwester in das Buch blicken.

Aber sie schob ihn fort, als wäre das ein Bild, das er nicht sehen sollte, und sagte: „Geh, Bubi, räum’ deine Bücher zusammen und trag’ sie in die Hütte. Wir bekommen Tau. Dann kannst du auch drin in der Stube gleich die Lampe anzünden und Feuer machen zum Thee.“

Sie sah dem Knaben nach, bis er in der Hütte verschwunden war. Dann verglich sie noch mit einem letzten prüfenden Blick ihre Zeichnung und das Modell, nickte ruhig vor sich hin und erhob sich. „So, ich danke Ihnen!“ Sie löste das Blatt aus dem Buch.

Mazegger stand auf und fragte unsicher: „Darf ich das Bildl sehen?“

„Gewiß!“ Sie legte das Blatt auf den Tisch. „Und ich schenk es Ihnen … für den Fall, daß Sie keinen Spiegel haben, Welcher richtig zeigt.“

Zögernd, als wäre ihm die Sache nicht ganz geheuer, griff Mazegger nach dem Blatt. Kaum hatte er einen Blick auf das Bild geworfen, da schoß ihm das Blut mit dunkler Röte ins Gesicht, als hätte er einen Schlag empfangen. Und erschrocken stotterte er:

Das bin ich? Und solche Augen hab’ ich?“

„Ja, Mazegger! Jetzt kenn’ ich Sie … ganz! Und fürchte mich nicht mehr!“

Sie wandte dem Jäger den Rücken und ging zur Hütte.

Er starrte ihr nach, und als sie verschwunden war, sah er mit glasigen Augen auf das zerknüllte Blatt in seiner Faust und schleuderte den Knäuel mit einem Fluch unter die Büsche des Gartenzaunes.

Was da geschehen war, und wie sie nach dieser hilflosen Angst vor ihm diese stolze sichere Ruhe gefunden hatte – das verstand er nicht. Aber er fühlte, daß alles für ihn verloren war – fühlte, daß sie ihn fortschickte wie einen geprügelten Hund.

Verstört, mit dem unsicheren Schritt eines Betrunkenen, ging er zur Hütte und nahm seine Büchse. Als er den Garten verlassen hatte und über das Latschenfeld hinunterstieg, erkannte er auf der feuchten Erde des Pfades die Trittspuren zweier Männer. Diese plumpe breite Sohle mit dem schweren Eisenbeschläg und dem Nagelkreuz in der Mitte – das war die Fährte Praxmalers! Und die andere Spur, dieser schlanke, schmale Fuß –

„Ah, so?“ Mit galligem Lachen nickte Mazegger vor sich hin, als verstünde er nun alles. Und während sein Gesicht sich entfärbte und der Zorn in seinen Augen funkelte, zerstörte er mit einem Fußtritt die Fährte. Dann sah er zur Hütte hinauf und nickte wieder – es war ein Blick, aus dem ein Schwur und eine Drohung sprach.

Hastigen Ganges schritt er über das Latschenfeld hinweg und trat in den Wald. Im dunklen Schatten der Bäume blieb er stehen, nahm die Büchse ab, lehnte sich an einen Stamm und starrte zur Hütte hinauf, um deren Dach sich langsam schon die dünnen Nebel woben, die in der Kühle des Abends aufdampften aus dem See.

Als Mazegger das Mädchen aus der Hütte treten sah, lachte er, hob die Büchse, spannte den Hahn und legte zielend das Gewehr an die Wange.

Man konnte hören, wie Lo’ mit dem Bruder plauderte, während sie um die Ecke der Hütte ging und an einem Fenster die Läden schloß.

Zielend und den Finger am Drücker, folgte Mazegger mit dem Lauf der Büchse jedem Schritt des Mädchens, in seiner Eifersucht mit grausamer Freude den Gedanken genießend: Ein leiser Druck nur an dieses Zünglein … und auch der andere wird sie nicht haben! Keiner!

Gustl war in der Thür erschienen, hemdärmelig, mit den Händen in den Taschen des Lederhöschens. „Und wann, Lo’ … wann gehen wir morgen?“

„Um sechs Uhr früh.“

„Ach, Gott!“

„Ja, Bubi, wir müssen bis Mittag zu Hause sein!“

„Freilich, ja, und ich freu’ mich doch selber heim! Aber weißt du, in der Früh’, da beißen sie so gern … vielleicht hätt’ ich noch eine bekommen, recht eine schöne, oder zwei … und die hätten wir der Mama bringen können!“

„Gut, ja, dann steh’ nur um vier Uhr auf. Da hast du zwei Stunden Zeit, bis ich gepackt und die Hütte geräumt habe.“ Lo’ war zur Thüre zurückgekommen, und den Arm um die Schulter, des Bruders legend, wollte sie in die Hütte treten.

In dem bleichen Gesicht des Jägers spannte sich jeder Zug, und die Frage, die in ihm wühlte, redete aus seinem brennenden Blick: „Thu ich es? … Nein? … Oder ja?“ Fester, als wäre der Entschluß zur That in ihm aufgestiegen, preßte er das Gewehr an die Wange.

Da hörte er hinter sich das Brechen eines dürren Reises und ein Geräusch wie von einem leichten Schritt. Erschrocken ließ er die Büchse sinken und blickte scheu um sich her. Der Wald war öde – aber da fiel ein Tannenzapfen aus einem Wipfel herunter, und schnalzend, mit weitem Sprung, schwang sich ein Eichhörnchen von dem Baum hinüber zum nächsten.

Einen Fluch murmelnd, hob Mazegger die Büchse wieder.

Aber an der Hütte droben hatte sich schon die Thür geschlossen, der Garten war leer, und im erwachenden Abendwinde tönten leis die Glocken des Harfenbaumes.

Heiser lachte Mazegger vor sich hin und stand noch eine Weile. Dann warf er die Büchse hinter die Schulter und schritt durch den Wald hinunter.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0234.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2019)