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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Elschen, die fertig angezogen ist, holt ihm das Buch und verschwindet dann, um Kaffee zu trinken. Es thut mir leid, ihr nicht dabei Gesellschaft zu leisten, aber ich kann mich heute noch nicht zum Aufstehen entschließen.

Müthchen blättert eine Weile, jedes Bild mit lauten Ausrufen begleitend.

„Mutter, guck doch nur, was das für ein komisches Ding ist!“ Dabei hält er das Buch hoch in die Höhe, mir ermunternd zuwinkend.

„Ich kann’s von hier nicht sehen,“ sage ich schlaftrunken, ohne mich aufzurichten.

„Soll ich lieber bei dich ins Bett?“

Sein Stimmchen klingt so süß und einschmeichelnd, daß ich’s nicht übers Herz bringe, „Nein“ zu sagen.

„Willst du aber auch ganz mäuschenstill liegen?“

Müthchen beteuert’s hoch und heilig und kommt eilfertig mit seinem dicken Buche angelaufen.

Beim Hinaufklettern in mein großes Bett stützt er sich mit dem Fäustchen auf meinen Magen, der seit lange mein wunder Punkt ist.

Ich stöhne auf, da schlingt er die Aermchen um meinen Hals und küßt mich ab: „Ich konnte wirklich nichts dafür, Mutterchen.“

Und dann macht er sich’s bequem und zieht mir zwei Drittel der Bettdecke fort, so daß ich anfange zu frösteln.

Wir sehen uns nun gemeinsam das Buch an, und ich muß die schwierigsten Erklärungen abgeben zu Maschinen, die ich nie in meinem Leben gesehen habe. Dabei hat er ein bewunderungswürdiges Gedächtnis und weiß ganz genau, was ich das vorige Mal zu den Bildern gesagt – es würde mir nichts helfen, ihn mit allgemeinen Redensarten abspeisen zu wollen.

Endlich kommt Ida und erlöst mich von dem kleinen Quälgeist. Im ganzen läßt er sich heute gutwillig anziehen, ich sehe also über kleine Unarten hinweg. Daß er sich mit meiner Zahnbürste die Nägel reinigt, kann ich natürlich nicht dulden, und als er sich die nassen Hände dann noch an meinem schön gestickten Ueberhandtuch abtrocknet, gerate ich in Zorn und versetze ihm einen Klaps, dessen geringe Schmerzwirkung in keinem Verhältnis steht zu dem fürchterlichen Geheul, mit dem Müthchen die Schlafstube verläßt.

Ich glaube, Elschen segnet die Schule, die ihr für ein paar Stunden ein ruhiges Plätzchen sichert! Der Kuß, mit dem sie von mir Abschied nimmt, ist beinahe mütterlich – ich thue ihr leid. –

Nach dem Kaffee, der ohne weitere Störung verläuft, geht Müthchen zur Rekognoscierung in den Hof, und ich besorge allerlei Notwendiges im Haushalt, um mich nachher beruhigt an meinen Schreibtisch setzen zu können.

Draußen ist alles still. Ich warte förmlich auf irgend einen Schlachtruf von Müthchen – aber es regt sich nichts. Das ist kein gutes Zeichen! Wenn Müthchen sich ruhig verhält, ist er entweder krank, oder er bereitet sich auf irgend einen besonders großartigen Streich vor.

Diesmal habe ich ihm jedoch unrecht gethan, denn wie ich aus dem Fenster nach ihm ausschaue, kommt er eben mit strahlendem Gesichtchen die Straße heraufgelaufen und schwenkt schon von weitem in freudiger Aufregung die Arme.

„Mutter, darf ich mit aufs Feld? Dietrichs machen Kartoffeln aus.“

Aus alter Gewohnheit fliegt mein Blick zuerst über seinen Anzug.

„Wo ist deine Schürze?“

Müthchen, der inzwischen herangekommen ist, deutet mit schuldbewußter Miene aufs Treppengeländer.

Da hängt das schön gestärkte Schürzchen, schon Nr. 2 seit heute morgen, wie Ida empört berichtet, ganz zusammengeknüllt über dem Pfosten.

Ich halte meinem Sohne eine angemessene kleine Rede, merke aber, daß seine Gedanken nicht bei der Sache sind.

„Darf ich, Mutter?“

„Wer geht denn mit?“ frage ich mißtrauisch.

„Dietrich Großvater und Paul, und Paulen sein Vater und ich – alle!“

Müthchen ist Feuer und Flamme. Da das Wetter schön ist und Dietrich Vater und Großvater mir eine Garantie für die Solidität des Unternehmens gewähren, liegt kein Grund vor, dem Kind die Bitte abzuschlagen.

„Aber erst laß dich gründlich abbürsten!“

„Ja, das hat Dietrich Großvater auch gesagt. Und hier den Haken,“ er deutet auf seine offne Bluse, deren Unordnung ich jetzt bemerke, „solltest du mir auch noch annähen, dann sähe ich viel hübscher aus.“

Der Aerger würgt mir förmlich in der Kehle – was müssen Dietrichs nur von mir denken!

„Sage nur Dietrichs,“ antworte ich, rot vor Zorn, „der Anzug wäre heute morgen rein und ganz gewesen, aber bei solch kleinem Schmutzfinken hielte das gerade eine Stunde.“

Dann bringe ich die verschiedenen Schäden in Ordnung, stecke ihm eine Bemme ein und gebe ihm noch ein paar Ermahnungen mit auf den Weg, trotzdem ich von ihrer Ueberflüssigkeit im voraus überzeugt bin.

Glückselig trollt er ab, und ich sehe ihm nach in stiller Lust: welch süßer, kleiner Kerl ist er doch trotz alledem!


Mittags kommt er wirklich pünktlich heim, aber in einem Aufzug, der jeder Beschreibung spottet.

Elschen, die ihn auf der Straße getroffen hat, ist ihm ausgewichen und dann mit verdoppelter Eile nach Hause gelaufen, um nicht mit ihm gesehen zu werden.

Ich sage nur schwach: „Aber Müthchen …!“ Mit Schelten mag ich ihn nicht gleich empfangen, er ist gar so befriedigt von seinem Erntefest.

„Schön war’s,“ berichtet er mit glänzenden Augen, „wir haben Kartoffelfeuer gemacht – hui, sind die Funken geflogen! Und Kartoffeln haben wir gebraten … ich sage dir, Mütterchen, die schmecken aber! Ich hab’ euch auch welche mitgebracht!“

Damit zieht er aus dem Hosentäschchen drei ganz verkohlte Kartoffeln und überreicht sie Elschen, Ida und mir.

Meine Freude über das Mitgebrachte ist nicht ganz ungetrübt, denn ich muß daran denken, wie die Höschen nun wohl von innen aussehen. Doch behalte ich meine Bedenken für mich.

Bei Tisch hat Müthchen keinen Appetit, sogar sein Leibgericht, den Kartoffelbrei, läßt er stehn.

„Hast du etwa schon gegessen?“ frage ich ahnungsvoll.

Müthchen nickt. „Auf dem Bahnhof, mit Dietrichs und den Pollacken.“

„Und getrunken hast du wohl auch?“

„Bier,“ sagt er stolz. „Paul und ich ein Seidel zusammen, aber ich hab’ das meiste gekriegt.“

Nach dem Essen soll Müthchen schlafen, eine Einrichtung, an der ich mehr meinet- als seinetwegen festhalte. Vielleicht gelingt es Ida während dieser Zeit, die Spuren des Kartoffelfeldes von Müthchens Kleidern zu entfernen.

Ich lege mich todmüde auf die Chaiselongue, was ich mir sonst nie gestatte, und Elschen nimmt eine verfrühte Weihnachtsarbeit vor, die sie seit Wochen in allen möglichen und unmöglichen Winkeln vor mir versteckt – weil ich damit beglückt werden soll – und die ich beim Aufräumen immer wieder entdecke.

Ueber dem Hause liegt eine wohlthätige Ruhe, nur Ida summt in der Küche beim Geschirrabtrocknen ein Lied, dessen Melodie ich erheblich anders im Gedächtnis habe.

Da … wer erscheint nach kaum zehn Minuten, bescheiden lächelnd, auf meiner Schwelle? ….

Müthchen!

Er hat sich ganz allein wieder angezogen.

Der Frage, die er in meinen Augen liest, kommt er mit den Worten zuvor: „Wenn ich doch nicht schlafen kann, kann ich eben nicht!“ Eine Logik, die nicht zu widerlegen ist.

Sein Anzug ist natürlich noch nicht gereinigt und sieht so polizeiwidrig aus, daß aushilfsweise die Sonntagsgarnitur geholt werden muß. Ich schärfe Müthchen ein, aus diesem Grunde heute nicht im Keller und in den Ställen herumzuspielen, was er auch verspricht.

Dann begiebt er sich vor die Hausthüre, um seinen Freund Paul zu rufen.

Ich überzeuge mich durch Augenschein, daß die Jungen draußen artig spielen. Daß Paul eine sogenannte „Striezebüchse“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0243.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)