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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

hat und an der Gosse fortwährend Wasser ein- und auszieht, um es an die nächstgelegenen Häuser zu spritzen, gefällt mir zwar nicht, aber ich kann nichts dagegen sagen; denn Herr Dietrich hat Paul das Spielzeug vom Wiesenmarkt mitgebracht. Müthchen steht ja auch ganz unbeteiligt daneben.

Allzulange scheint seine Interesselosigkeit freilich nicht gedauert zu haben, denn ich höre auf einmal im Hofe seinen durchdringenden Zeterton.

Und da kommt er auch schon an, die schöne, blaue Jacke von oben bis unten bespritzt! Der eine Fuß hat auch im Wasser gestanden, wie ich durch Befühlen des feuchten Stiefels feststelle.

„Warte, jetzt sollst du aber mal ordentlich was bekommen,“ verkündige ich ihm, sehr böse.

„Kann ich dafür, wenn Onkel Eduard Paulen zuruft, er solle mich vollspritzen?“

„Onkel Eduard?“

„Ja, er hat’s Paulen durch das Fenster zugerufen!“

Innerlich bin ich erbost auf Onkel Eduard, verteidige ihn aber Müthchen gegenüber damit, daß er nur einen Scherz habe machen wollen.

„Mutter,“ sagt Müthchen, nachdem er Schuhe und Strümpfe gewechselt hat, „willst du mir wohl einen ,Zehner’ schenken?“

„Wofür?“

„Ich will mir von Probstens auch eine Striezebüchse holen, Paul sagt, da gäb’s welche für zehn Pfennige.“

Obgleich ich Müthchens Rachegedanken ahne, gebe ich ihm das Geld, denn ich bin immer dafür, daß die Jungen ihre Streitigkeiten untereinander selbst schlichten.

Seinen „Zehner“ in der Hand, Paul, der mit zur Schau getragener Artigkeit an der Gosse steht, einen triumphierenden Blick zuwerfend, zieht Müthchen mit einem Schritt ab, den er seinem Ideal, dem Pferdeknecht Ziegenhorn, bewunderungswürdig abgelauscht hat.

Er kommt aber nach einer Weile ohne Striezebüchse, dagegen mit vollen Backen kauend wieder.

„Na?“ rufe ich bloß.

„Probstens hatten ja gar keine, Paul hat gelogen,“ schreit Müthchen entrüstet.

„Und wo ist der Zehner?“

Müthchen lächelt verschämt. Er hat sich, da es keine Striezebüchsen gab, Bonbons für das Geld gekauft – ich hatte leider nicht daran gedacht, auch für diesen Fall Instruktionen zu geben.

Nachmittags erwarte ich Besuch und gebe Ida, wie jedesmal, vorher strenge Verhaltungsmaßregeln, denn ich kenne Müthchens Art, einfach in den Salon hereinzuplatzen, sobald er Besuch und Kuchen wittert.

„Du läßt ihn nicht einen Augenblick allein, Ida! Und, Elschen, du achtest auch ein bißchen auf ihn! Ich hebe euch auch schönen Kuchen auf.“

Nachdem Müthchen sich einen Mohrenkopf und eine Brezel als Lohn ausbedungen hat, verspricht er, sich für den Rest des Tages musterhaft zu benehmen.

Der Besuch kommt, und wir sitzen plaudernd im Salon. Ich selber freilich komme nie zum unbefangenen Genuß lieber Gäste, da ich immer mit einem Ohre auf den Gang hinaus horche.

Ein paarmal glaube ich drüben erregte Stimmen zu hören, mag mich aber wohl geirrt haben, denn es erfolgt weiter nichts.

Wir reden über Kindererziehung. Meine Freundin hat viel pädagogische Bücher gelesen und besitzt eine beneidenswerte Kenntnis von dem, was man Kindern erlauben darf und was nicht, worüber ich sehr oft im Zweifel bin.

Allerdings ist sie kinderlos und betreibt das Erziehen nur theoretisch, was ich mir bedeutend leichter vorstelle.

Plötzlich fahre ich entsetzt in die Höhe. Draußen spielt sich so etwas wie ein Indianertanz ab. Ich überschaue im Geiste vollkommen klar die Situation. Ida und Elschen suchen Müthchen, der ihnen entwischt ist, mit List und Güte ins Kinderzimmer zurückzuziehen, Müthchen will aber nicht! Die Thatsache, daß die beiden, des Besuches wegen, keine Gewaltmittel anwenden dürfen, macht er sich zu nutze und schlägt mit Händen und Füßen um sich.

Zuerst habe ich versucht, krampfhaft weiter zu reden, ohne den Lärm draußen zu beachten, nun, da es zu toll wird, will ich hinaus.

Da fliegt auch schon die Thüre auf und Müthchen kommt mit ein paar Hechtsätzen herein.

Ohne die Tante, die ihm lächelnd die Hand entgegenstreckt, eines Blickes zu würdigen, lehnt er sich vertrauensvoll an mich an und schielt nach dem Kuchenkörbchen, auf dem noch einige Prachtstücke liegen.

Ich bin ganz außer mir.

„Müthchen, wie sagt man denn?“

Er entschließt sich widerstrebend, der Tante „Guten Tag“ zu sagen, wirft auch, auf wiederholten Befehl, die Thüre krachend zu, immer in der Hoffnung, noch ein Stück Kuchen zu erwischen.

Als er zurückkommt, entdecke ich, daß irgend etwas mit seinem Haar nicht in Ordnung ist – er sieht ganz verändert aus.

„Was hast du denn gemacht?“ Ich fasse seinen Kopf zwischen beide Hände, „du hast dir ja das Haar abgeschnitten!“

Ein brenzliger Geruch zeigt mir an, daß er auch an der Brennschere gewesen ist. Auf der einen Seite der Stirn kräuselt sich der mißlungene Versuch eines Löckchens, auf der anderen haben ungeschickte Fingerchen ein tiefes Dreieck in den blonden Haarwuchs geschnitten.

Ein paar Wochen lang mindestens ist der Junge entstellt.

„Entschuldigen Sie einen Augenblick,“ sage ich, zur Freundin gewandt, dann packe ich meinen Schlingel, der, Unheil ahnend, zu brüllen beginnt, und zerre ihn mit festem Griff hinter mir her in die Schlafstube. Meine Geduld ist zu Ende.

Ich wichse ihn durch, so gut ich kann, die meisten Hiebe gehen aber in die Luft, weil er mir immer wie ein Aal zwischen den Händen durchschlüpft.

Schließlich kann ich nicht mehr und stelle ihn, um der Sache größeren Nachdruck zu verleihen, in die Ecke.

„Hier bleibst du, bis ich dich rufe!“

Aufs äußerste erschöpft, kehre ich in den Salon zurück und gestehe kleinmütig ein, daß ich zur Kindererziehung nicht das geringste Talent habe.

Die Freundin ist zu ehrlich, mir ganz zu widersprechen, nur meint sie, es würde sich alles schon noch machen, und in Müthchen stecke bei aller Unart ein tüchtiger Kern.

Dann geht sie, und ich bin fast froh darüber. – Die Stimmung ist mir gründlich verdorben. – Müthchen ist wirklich im Schlafzimmer geblieben, nur, daß er nicht mehr in der ihm angewiesenen Ecke steht, sondern sich mit seinen schmutzigen Stiefelchen auf meine reine, weiße Bettdecke gelegt hat. Ich kann sie getrost gleich wieder ins Waschfaß stecken.

Da die Freundin mir auseinandergesetzt hat, daß zu vieles Strafen eine schlechte Wirkung auf ein Kindergemüt habe, übergehe ich diesen neuesten Fall mit Stillschweigen und nehme Müthchen wieder in die bürgerliche Gesellschaft auf.

Das Abendbrot verläuft infolge der vielen Aufregungen ziemlich schweigsam. Müthchens Gelüst, noch die laterna magica in Gang zu bringen, wird mit ruhigem Ernst abgelehnt; er kommt gleich nach dem Abendbrot ins Bett.

Der kleine Schelm ist selbst müde, und wie er nun rein gewaschen in seinem weißen Bettchen liegt, ist alle Wildheit von ihm abgestreift, er sieht mit dem goldblonden Haar und den großen, blauen Augen aus wie ein Engel der Unschuld.

Ich bete mit ihm, und da schlingt er die Aermchen um mich und fängt plötzlich bitterlich zu schluchzen an.

„Thut’s dir denn leid, Müthchen, daß du heute so unartig warst und die liebe Mutter so oft betrübt hast?“

Er nickt ein paarmal eifrig und drückt sich in leidenschaftlicher Zärtlichkeit an mich: „Ich hab’ dich doch so schrecklich gern.“

Ich kniee an seinem Bettchen, bis er eingeschlafen ist, und durch alles Zagen und Zweifeln, das in mir aufsteigen will, wenn ich an die Zukunft dieses wilden, kleinen Lebens denke, leuchtet wie ein Sonnenstrahl dies „Ich hab’ dich gern!“

Was an notwendiger Strenge an diesem stürmisch schlagenden Herzchen vielleicht versäumt wird, muß die Liebe ersetzen, die große, heilige Liebe, die wie ein Strom von mir zu ihm hinübergeht.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0244.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)