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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Alle waren aufgesprungen und umringten uns. Zehn, zwölf klammernde Hände hielten Zeutherns beide Arme.

Der junge Zeuthern stand mit gefalteten Händen vor Steineck wie ein jammerndes Kind.

Man brachte den Forttobenden und Weiterschimpfenden hinaus und ließ ihn unter Aufsicht seines Bruders in eine Droschke setzen.

Am andern Morgen trat sofort der Ehrenrat zusammen. Aus kameradschaftlichem Mitgefühl für den jungen Zeuthern zeigte man sich bereit, auf seiten des Beleidigers Trunkenheit als Milderungsgrund anzunehmen. Ich ließ ihn für den mir applizierten ‚dummen Jungen‘ gelten; aber nicht für die Schmähung des Andenkens Kaiser Wilhelms I. Nur wenn Assessor von Zeuthern hätte ehrenwörtlich die Erklärung abgeben können, er wisse von nichts mehr, durfte man doch sinnlose Trunkenheit annehmen. Dieser aber erklärte, absolut nüchtern gewesen zu sein und nichts zurücknehmen zu wollen. Der junge Bruder meldete sich sofort beim Oberst, und es wurde vereinbart, daß der Lieutenant gleich eine achttägige Urlaubsreise anzutreten habe. Er wollte und konnte seines Bruders Sekundant hierbei nicht sein, für ihn gab es nur einen Ausweg: nicht einmal als Zeuge an der Sache beteiligt zu sein.

Dies, mein lieber Robert, war die Vorgeschichte des Duells. Ich habe die Beleidigung selbst nicht aus meiner Feder gebracht. Das verstehst Du.

Indem ich Dir alles so ruhig erzähle, drängt sich mir klarer als jemals die Erkenntnis auf, daß ich in einer ähnlichen Lage immer wieder so handeln müßte und würde handeln wollen. Es konnte von einer Freiheit der Entschließung gar nicht die Rede sein; die äußerlichen Umstände banden den Willen ebensosehr wie das eigene angeborene und anerzogene Empfinden.

Also kann ich von Reue nicht sprechen, und ich bereue auch nichts.

Ich habe einen Menschen erschossen, der mir voll böser Absicht selbst in die Schußlinie gelaufen ist. Das ist alles. Ich bin nicht dafür verantwortlich.

Und dennoch, lieber Robert, dennoch ist seitdem irgend ein kranker Punkt in mir. Ich kann beinahe sagen: ich bin monoman geworden, ich denke nur immer an den Toten, sein Weib, seine Kinder.

Meine Gedanken kreisen um diese Familie, die ich nicht kenne und vermutlich niemals kennen werde.

Das, was ich so an äußerlichen Daten erfragen konnte, habe ich erfragt von den Kameraden, mit denen der junge Zeuthern naturgemäß nach diesem Vorfall etwas offener über seinen Bruder und dessen Verhältnisse sprach als vordem. Ich weiß, daß der Erschossene sein erhebliches Vermögen und auch das seines Bruders an der Börse verspekulierte und daß auch weitere Zeuthernsche Familienmitglieder stark geschädigt sein sollen.

Und mir kommen Gedanken: wenn mein Schuß fehlgegangen wäre! Wenn der Mann noch lebte! Vielleicht konnte er dann seine Spekulationen ruhig abwickeln, er konnte sie zu einem glücklichen und gewinnbringenden Ende führen! Durch mich im Grunde, durch mich sind diese Leute verarmt.

Der Bruder bekommt von einem alten Onkel mütterlicherseits nun eine auskömmliche Zulage; auch der Witwe und den Kindern giebt dieser gute alte Mann eine kleine Rente.

Mir ist, als bezahlte da ein Fremder meine Schulden. Und doch möchte ich mich verspotten wegen solcher Gedanken.

Die Frau ist die Tochter eines sehr wohlhabenden Gutsbesitzers; sie würde wohl in ihr Elternhaus zurückkehren, heißt es.

Das ist nie leicht. Da geht jemand in die Abhängigkeit zurück, der schon selbständig war. Und das ist die Folge meiner That.

Aber das sind nur die äußerlichen Folgen.

Ich zermartere mein Hirn mit viel schwereren Fragen.

Habe ich da ein seliges Eheglück zerstört? Hat die Frau diesen Mann sehr geliebt? Wenn man ihn sah und so erkannte, wie wir ihn erkennen mußten, erschien es unmöglich, daß ein Weib sich ihm anders als im Jugendirrtum gegeben haben sollte. Wenn man seinen Blick und seine Züge sich vergegenwärtigt, muß man glauben, daß er als kleinlicher Tyrann eher ein Weib gequält, denn beglückt habe.

Dennoch – dennoch! Frauenherzen haben ihre wunderlichen Neigungen. Dieses Weib, das ich nicht kenne und deshalb nicht beurteilen kann, hat diesen Mann, der uns Männern so widerwärtig schien, doch vielleicht geliebt.

Dann hab’ ich Eine einsam gemacht, die vorher mit dem Gefährten im Glücke stand. Dann lebt in der Seele einer mir fremden Frau ein Haß gegen mich. Dann verfolgen mich harte Gedanken, und ein stiller Rachewunsch geht mir unsichtbar überall nach. Und ich kann nicht einmal hingehen und ihr sagen: Verzeihe mir!

Er hatte auch Kinder! Zwei kleine reizende Kinder. Steineck hat ihr Bild in Zeutherns Zimmer gesehen. Es sollen ein paar süße Dinger sein, mit großen dunklen Augen und dunklem Haar, das ihre Wangen umrahmt.

Kinder! Haben wir, die wir noch nichts von der Ehe wissen und noch nichts vom Vaterglück, haben wir jungen Männer es nicht rings in unsern Kreisen hundertmal beobachten können, daß auch ein tyrannischer, unliebenswürdiger Ehemann als Vater noch seinen Charme und seine Milde haben kann? Vielleicht war dieser verbitterte, gehässige, heftige und heimtückische Mann seinen Kindern ein rührender, hingebender Vater?

Vielleicht liebte er sie so leidenschaftlich, daß es ihn nur ihretwegen so empörte, aus seiner Carriere gestoßen zu sein, vielleicht ließ er sich nur, um ihnen ein Vermögen zusammenzuraffen, zu blinden Spekulationen hinreißen?

Was für einen Erzieher, was für einen Versorger habe ich ihnen dann genommen! Wieviel Treue, wieviel Wachsamkeit ihrer Kindheit und Jugend geraubt!

Wie wird sich die Entwicklung und das Leben der Vaterlosen gestalten?!

Wird der erste männlichere Gedanke des kleinen Jungen nicht ein Zornesgedanke sein gegen mich, der ihm den Vater erschoß?

Wird das kleine Mädchen, wenn es heranwächst, sich nicht mit ihrer Mutter vereinen im Haß gegen mich?

Und ich, der ich ihnen den Ernährer, den Erzieher, den Beschützer genommen habe, ich kann ihnen den Verlorenen nicht einmal ersetzen. Ich müßte diesen Kindern sorgsam aus dem Wege gehen, wo immer ich sie träfe.

So, mein lieber Robert, streiten sich mein Verstand und meine Empfindungen in mir herum.

Vielleicht ist dies ganz natürlich, und nur ein in Roheit verhärteter Mann würde frei von diesem Gedankenballast sein.

Daß es Ballast ist, den ich nicht dauernd mit mir herumschleppen darf, wenn ich wieder ein frischer, leistungsfähiger Offizier werden soll, das ist gewiß. Ich darf auch wohl annehmen, daß mein derzeitiges thatenloses Leben alles mir schwerer und unüberwindlicher erscheinen läßt, als es ist. Und ich darf auch wohl hoffen, daß so gänzlich neue Eindrücke, wie eine mehrmonatige Reise nach Amerika sie mir natürlicherweise bringen muß, mein Blut wieder leichtflüssiger machen. Ein lustig hüpfender Quell ist es ja von Hause aus nie gewesen.

Mein Gedächtnis und meine Phantasie sind mir üble Gefährten gewesen in dieser Zeit. Sie waren allzuthätig. Und sind doch unsere besten Freunde und – unsere intimsten Feinde.

Wie danke ich Dir, Robert, daß Du mir die Gelegenheit gabst, mich auszusprechcn. Mir scheint beinahe, als ob mir schon fröhlicher ums Herz sei.

Das Bild, welches mir der Blick aus dem Fenster über meinem Schreibtisch zeigt, erscheint mir nicht mehr so kerkerhaft. Auf der Mauer drüben, die zur Wohnung des Kommandanten gehört, prallt der Sonnenschein. Er läßt diese Mauer gradezu impertinent rot und neu und poesielos erscheinen – aber es ist doch immer Sonnenschein. Anstatt auf einer Mauer, die zum Gebäudekomplex einer Festungskommandantur gehört, werde ich die Sonne sehen auf blauen, blitzenden, rastlosen Wogen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0266.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)