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Und auch das Paar ergreift ein Schauern,

Ein Vorgefühl vom jähen Tod,
Der hier inmitten Grabesmauern
Dem Baume über ihnen droht.
Dem Baum, der ihnen Freund gewesen

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Soweit all ihr Erinnern reicht,

Dess’ Gruß stets aufgefrischt ihr Wesen,
Auch dann, da längst ihr Haar gebleicht …

Als einst um ihre Stirnen flogen
Die Kinderlocken, blond und braun,

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Sind hier zum Spielplatz sie gezogen

Durch offne weite Wiesenau’n;
In seiner Zweige dichter Krone
Da war ihr herrlichstes Asyl,
Dort brach er Früchte ihr zum Lohne

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Für ihre Treu’ im kind’schen Spiel …

In seines Laubes trautem Schatten
Ward dann der erste Kuß getauscht,
Hat sie als Braut des künft’gen Gatten
Begeist’rungsworten froh gelauscht.

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Und als die lange dann Getrennten

Voll Hochzeitsglück sich wiedersah’n,
War’s ihnen, als müßt’ Segen spenden
Der Baum für ihre Lebensbahn …

Als sie sich dann zum Rückweg wandten

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Und an dem Häuschen hing ihr Blick,

Mit seinen Giebeln und Veranden
Ein lauschig Nest für stilles Glück —
Als eben sich, noch frei vom Neide,
Der Wunsch in ihrer Brust geregt:

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O, könnten hausen doch wir beide

Bald auch so traut, so grünumhegt! —
Da durften sie — o frohes Staunen! —
Erkennen, daß das Häuschen frei,
Und von den Zweigen klang ein Raunen:

110
Eilt, daß es euer eigen sei!


Nun ganz und gar ward zum Genossen
Des eignen Lebens, frisch und jung,
Der starke Baum — sein Grünen, Sprossen
Gab ihren Kräften Trieb und Schwung.

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Und wenn er bot aus falbem Laube

Der goldnen Früchte Herrlichkeit,
Wie regte mächtig sich ihr Glaube
An ihres Fleißes Erntezeit.
Wenn aber gar in seine Aeste

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Beim frohgestimmten Kindtaufsfeste

Hinauf das Hoch des Vaters scholl,
Da gab’s ein Rauschen in den Zweigen —
Er segnete mit sanftem Neigen
Den kleinen Paten liebevoll!

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Die Alten unterm Birnbaum plaudern,

Längst sind vom Kummer sie befreit,
Längst wich der Todesahnung Schaudern
Lichtbildern der Vergangenheit.
Der Duft des todgeweihten Baumes

130
Bezaubert ihren Sinn mit Macht,

Das Eden ihres Lebenstraumes
Ist ganz zur Wirklichkeit erwacht!
Das ist ein Leben und ein Weben,
Es blüht und duftet um sie her,

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Sie fühlen sich von Glück umgeben

An dieser Stätte, wüst und leer.
Sie hören ihre Kinder singen,
Und seh’n sie springen hell im Chor,
Die kleinen Stimmen jauchzend dringen

140
Zum Vogelsang im Baum empor.


Der Alten Herzen froh sich weiten —
Die einst hier klein, jetzt sind sie groß —
Was auch vernichtet all die Zeiten,
Gesegnet blieb ihr Elternlos!

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Und mußten sie das Heim auch missen,

Das hier nun stolzrem Baue wich —
Bei jedem ihrer Kinder wissen
Sie traut ein Heim bereitet sich …
Da rauscht’s im Baum und weckt die Alten,

150
Der Mond aus Wolkenschleiern tritt —

Sie aber ihre Hände falten
Und geh’n vom Ort mit festem Schritt.
Doch ehe sie ihn ganz verlassen,
Da machen sie noch einmal Halt;

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Die alten Augen zärtlich fassen

Des Baumes mächtige Gestalt.
Ja — so in lichter Blüten Hülle,
Mit seines Wipfels sanftem Weh’n —
Wann auch sein Schicksal sich erfülle —

160
So bleibt für sie er fortbesteh’n!


 Johannes Proelß.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0273.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)