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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Die angeblichen Zahnungsbeschwerden der Kinder.

Von Dr. Carl Hochsinger.

Die Anschauung, daß die Zahnung, d. h. das Hervorbrechen der Zähne aus den Kiefern des in Entwickelung begriffenen Säuglings, zu krankhaften Störungen des Allgemeinbefindens führen kann, ist wahrscheinlich beinahe so alt wie das Menschengeschlecht. Findet sich doch in dem Werke des berühmten Wiener Kinderarztes Professor Kassowitz über die Zahnung (Wien 1891) ein historischer Beleg dafür, daß bereits im 16. Jahrhundert v. Chr. ein derartiger Volksglaube bestanden hat. Das altindische heilige Buch „Athasvaveda“ enthält nämlich bereits eine Beschwörungsformel gegen die Krankheitserscheinungen, welche sich beim Hervorbrechen der beiden ersten Schneidezähne der Kinder regelmäßig einstellen sollen.

Es handelt sich also in unserem Falle um eine altehrwürdige und tief eingewurzelte Irrlehre, zu deren Erschütterung es erst wiederholter Anstrengungen angesehener Kinderärzte dieses Jahrhunderts, wie J. E. Wichmann, L. M. Pollitzer, A. Fleischmann und M. Kassowitz, bedurfte. Die Ergebnisse der neuen Forschung nach dieser Richtung hin mögen im Folgenden wiedergegeben werden.

Es ist bekannt, daß das Kind – sehr seltene Ausnahmen abgerechnet – mit zahnlosen Kiefern auf die Welt kommt und daß erst gegen den 7. Lebensmonat hin die ersten Zähne im Kiefer desselben erscheinen. Ueber die Art und Weise der Vorgänge, welche beim Durchtreten der Zähne aus den Kiefern in Wirklichkeit stattfinden, ist nun das Laienpublikum gar nicht unterrichtet.

Von einem Drucke seitens des herauskommenden Zahnes auf die Nerven, auf den Kieferknochen, auf das Zahnfleisch und dergleichen mehr, wie in Laienkreisen vielfach verkündet wird, ist hier absolut keine Rede. Das Hervortreten der Zähne aus den Kiefern ist vielmehr ein ganz harmloser Wachstumsprozeß, welcher darin besteht, daß der Zahnkeim, der im Kiefer des neugeborenen Kindes bereits angelegt ist, sich vergrößert, während die umgebenden Knochen- und Weichteile – doch nur ganz allmählich – eingeschmolzen und aufgesaugt werden, bis jene Lücken im Kiefer und im Zahnfleische entstanden sind, welche das Hervorkommen dieses Zahnkeimes nach außen hin gestatten. Der Zahn wächst eben nicht anders wie jedes andere knöcherne Gebilde des menschlichen Körpers; mithin können auch bei der Entwickelung der Zähne keine anderen Folgen für das wachsende Individuum entstehen wie beim Wachstum jedes beliebigen anderen knöchernen Organes, sagen wir etwa eines Fingerknochens oder des Nasenbeines.

Es ist daher thatsächlich vollständig ungerechtfertigt, wenn man sich einbildet, daß die Kinder durch das Zahnen wirklich und wahrhaftig erkranken, daß ihre Atmungs-, ihre Kreislaufs- und Verdauungsorgane infolge der Bildung von Zähnen von krankhaften Veränderungen ergriffen werden können.

Im Volksmunde und auch in gebildeten Laienkreisen spricht man hauptsächlich von folgenden 5 Arten von Zahnungsleiden: 1. Zahnfraisen, 2. Zahnfieber, 3. Zahnhusten, 4. Zahndiarrhöen, 5. Zahnausschläge. Wir wollen diese fünferlei Krankheitsgattungen, welche dem Zahndurchbruche in die Schuhe geschoben werden, durchgehen und sehen, was von denselben eigentlich zu halten ist.

Unter Zahnfraisen verstehen die Bekenner des Glaubens von den Zahnungsübeln das Befallenwerden der Kinder von Krämpfen (im Volksmunde „Fraisen“ genannt) infolge und während der Entwickelung von Zähnen.

Darauf ist zu erwidern, daß während des ganzen Kindesalters Krankheiten, welche mit Krampfanfällen verbunden sind, sehr häufig beobachtet werden. Die meisten Fieberkrankheiten der Säuglinge, fast alle Gehirn- und Nervenkrankheiten derselben und die Englische Krankheit (Rachitis), wenn sie den Schädelknochen des Säuglings in Mitleidenschaft zieht, sind in ihrem Beginne oder in ihrem Verlaufe von Krampfanfällen begleitet. Will man daher der Entstehung von solchen „Fraisenanfällen“ bei Säuglingen auf die richtige Spur kommen, so muß man zuerst entscheiden, ob bei dem Kinde Fieber besteht, man muß die Temperatur desselben messen. Weiters wird der herbeigerufene Arzt bald erkennen, ob das Kind von einer Nerven- oder Gehirnkrankheit befallen ist oder nicht. Von der höchsten Wichtigkeit ist es aber, immer festzustellen, ob das Kind nicht an Englischer Krankheit der Schädelknochen leidet, ob nicht eine abnorme Weichheit der genannten Knochen vorliegt. Denn durch das Uebel der Englischen Krankheit, welches unglaublich weit verbreitet ist, werden am allerhäufigsten Fraisenanfälle bei den Kindern hervorgerufen. Die Eltern, Anverwandten, Wärterinnen der Kinder, kurz, die Laien überhaupt ahnen gar nicht, wie häufig an den Schädelknochen ihrer kleinen Lieblinge Zeichen von Englischer Krankheit existieren, ohne daß irgend eine Störung im Befinden des Kindes den Gedanken an das Bestehen der Englischen Krankheit bei Laien wachzurufen vermöchte. Erst wenn ein Fraisenanfall auftritt, ein Arzt herbeigerufen wird, welcher den Kopf des Kindes untersucht und erweichte Knochenstellen daselbst konstatiert, wird die wahre Ursache des Krampfanfalles klar. Die Englische Krankheit ist eine der häufigsten Ursachen der sogenannten Zahnfraisen. Mit den Zähnen aber haben diese Anfälle gar nichts zu thun.

Wohl aber verursacht die Englische Krankheit auch eine Verlangsamung der Zahnentwickelung und eine Verzögerung des Zahndurchbruches, da die Kieferknochen, ebenso wie die Kopfknochen, bei der Englischen Krankheit in Mitleidenschaft gezogen werden.

Weil man nun sehr oft sieht, daß Kinder, bei denen die Zahnentwickelung langsam vor sich geht, von Krampfanfällen heimgesucht werden, hat man die letzteren auf das Kerbholz der Zahnung geschrieben, ohne zu wissen, daß es die Englische Krankheit ist, welche sowohl die Verzögerung der Zahnbildung als auch das Auftreten der Fraisenanfälle verursacht.

Krampfanfälle bei zahnenden Kindern haben also immer einen andern Grund als den Prozeß der Zahnentwickelung.

Was ist ferner das sogenannte Zahnfieber? Es ist immer irgend eine fieberhafte Krankheit, welche zufällig während der Zahnentwickelung des Kindes aufgetreten ist. In der Regel liegt hinter dem sogenannten Zahnfieber eine Mandelentzündung, ein Magenleiden, eine Schwämmchenkrankheit des Mundes oder eine Grippe versteckt. Man muß eben, wenn das zahnende Kind fiebert, gerade wie zu jeder anderen Lebenszeit des Kindes den Arzt holen lassen und darf sich nicht damit begnügen, anzunehmen, das Kind sei unwirsch, unruhig und heiß, weil es „zahnt“. Den genannten Leidenserscheinungen liegt stets eine bestimmte fieberhafte Erkrankung des Kindes zu Grunde, welche mit der Zähnung in keinem Zusammenhang steht.

Nicht viel anders verhält es sich mit dem im Volksmunde vielgenannten Zahnhusten. Während der ersten zwei Lebensjahre sind Kinder für Erkältungen und Ansteckungen durch das Schnupfen- und Grippekontagium ungemein empfänglich. Sobald ein Säugling aber Schnupfen oder Rachenkatarrh bekommt, hustet er auch schon. Hat irgend eine erwachsene Person im Hause Schnupfen, so kann man mit Bestimmtheit annehmen, daß bald darauf der Säugling, ob er jetzt im Zahnen begriffen ist oder nicht, Schnupfen und Husten bekommen wird.

Das wird von Laien fast ausnahmslos übersehen, den Husten aber, von welchem das Kind ergriffen wird, legt man den herannahenden, durchbrechenden oder den schon durchgetretenen Zähnen zur Last. Entwickelt sich aus der einfachen Hustenkrankheit, weil sie nicht richtig gewürdigt und behandelt worden ist, eine Bronchitis, eine Lungenentzündung und dergl. mehr, dann heißt es: „Die ‚Zahnungskrankheit‘ hat sich auf die Lunge geschlagen.“ Welch thörichter Wahn!

Nicht anders steht es mit den angeblichen „Zahndiarrhöen und Zahnausschlägen“. Die angeblichen Zahndiarrhöen sind ganz gewöhnliche Darmkatarrhe, wie man solche während des ganzen Säuglingsalters, besonders in der wärmeren Jahreszeit, alltäglich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0274.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2020)