Seite:Die Gartenlaube (1899) 0303.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

verlobt war, die hätte man ganz obenhin fragen können, ob der neue Premier schon eingetreten sei. Aber Lisbeth war entlassen und mit der Neuengagierten, die auch wieder Lisbeth genannt wurde, weil der Oberamtmann für alle Dienerschaft von jeher bestimmte Vornamen in Gebrauch behielt, war es nicht ratsam, eine Silbe über das Notwendige zu wechseln. Die neue Lisbeth hatte ein ungemeines Mundwerk, und Guste sah ihre Intriguen gegen die frühere Lisbeth hart gestraft.

Eine verzehrende Neugier beunruhigte Sabine. Nur wissen hätte sie es mögen. Weiter gar nichts. Wenn ich erst weiß, er ist hier, wird mir wieder ruhiger werden, bildete sie sich ein.

Und eines Nachmittags konnte sie es denn mit eigenen Augen sehen: er war da!

Sie saß, wie alltäglich um diese Tageszeit, am Fenster, auf die Eltern wartend, während ihre Kleinen mit Lisheth spazieren gingen. Drüben am Fenster stand Hauptmann von Hallendorf und kokettierte herüber. Er war hierin neuerdings etwas deutlicher geworden, denn ihm schien es, als ob Sabine von Zeuthern ihn nicht mehr übersähe. Und darin hatte er recht – nur daß Sabine oft zu ihm hinsah mit den Gedanken: ob er schon den neuen Premier in seiner Kompagnie hat? – Ob er sich gut mit Körlegg steht, stehen wird? – Dieser Fant, dieser Mensch mit dem sonderbaren Gemisch von Philiströsität und Forschheit, der wird nun „sein“ unmittelbarer Vorgesetzter!

Unten auf der Straße ging alle paar Minuten einmal ein Mensch vorbei. Es war zwar die Hauptstraße, aber Mühlau schlummerte von Eins bis Drei. Träumerisch stand Herr Küps in seiner Thür, die Hände auf dem Rücken gefaltet, zum blauen Maihimmel emporsehend.

Da ging jemand mit raschen, klingenden Schritten vorbei. Ein hoher, schlanker, blonder Mann, im Ueberrock des Regimentes, die Mütze auf dem Kopf. Er ging mitten auf dem Fahrdamm.

Und drüben riß der Hauptmann sein Fenster auf und rief einige Worte hinab. Der unten stand still und antwortete hinauf.

Sabine sah nur ein Wangenprofil, sah seine Gestalt und seine Art sich zu halten und zu bewegen und kannte ihn gleich.

Ihre Knie zitterten, ihre Lippen wurden trocken.

Sie hielt sich mit klammernden Händen an dem Tischchen fest, das vor ihr stand, und saß doch sicher im Stuhl.

Als dann die Eltern kamen, fragte die Mutter liebevoll besorgt: „Fehlt dir was, Sabine?“

„Mir? – mir nichts. Ich bin ganz wohl,“ brachte sie heraus. Aber der Spiegel, in den sie unwillkürlich blickte, zeigte ihr ein fahles, verzerrtes Gesicht.

„Ich hab’ ein wenig Kopfweh,“ sagte sie, „das macht mich immer gleich so blaß.“

Nun wußte sie: er ist da. Aber das Wissen gab ihr keineswegs die vermutete Ruhe. Viele neue Fragen tauchten auf.

Wußte er, daß sie hier lebe? Was würde geschehen, wenn sie sich zufällig träfen, gar träfen, wenn Sabine in Begleitung ihrer Mutter sich auf der Straße befände? Würde er, würde sie selbst nicht verraten, daß man sich schon einmal im Leben begegnet war? Würde er grüßen? Sie überhaupt erkennen?

Die Neugier auf all dies war noch brennender als die vorige. Sabine fühlte sich außerstande, sie zu ertragen.

In langen Briefen sprach sie sich zu ihrer Freundin Susanna darüber aus, von der so viel Jüngeren Rat verlangend. Susanna schrieb, daß sie fände, ein Gebot der Menschlichkeit und Rücksicht gegen Körlegg erheische es, ihn von Sabinens Anwesenheit in zarter Form zu benachrichtigen. Nur so könnten aufregende Scenen, wie eine unerwartete Begegnung in Gegenwart taktloser, verständnisloser Menschen, vermieden werden.

Diesen Rat hatte Sabine hören wollen. Aber die „taktvolle Mittelsperson“, die Susanna für die Benachrichtigung an Körlegg zu wählen riet, fehlte. Ihren Bruder Reinald konnte Sabine nicht damit beauftragen, sie sprach ihn überdies nie allein.

Sie spielte mit dem Gedanken, Körlegg zu schreiben, schreckte aber vor der Ausführung doch zurück, obschon sie im Geist bereits zehn verschiedene Briefe entworfen hatte.

Mühlau ist so klein, er muß mir doch endlich einmal begegnen. Wo es auch sei, wenn ich allein bin und wenn er allein ist, wir werden uns aussprechen. Er wird fühlen, wie ich es fühle, daß es unmöglich ist, in einer Stadt zu leben, ohne eine letzte Aussprache, dachte sie entschlossen.

Von da an fing sie an, viel spazieren zu gehen. Sie machte auch kleine Besorgungen selbst, die bis dahin Lisbeth hatte ausführen müssen, und zeigte sich freundlicher gegen Hinz und Kunz in der Stadt. Befriedigt beobachtete Frau Oberamtmann Deuben einmal vom Fenster aus, daß Sabine auf der Straße mit Frau Doktor Sebold einige Schritte zusammen ging, dann noch mit Frau Küps und Frau Rechnungsrat Müller drüben vor Küps’ Laden plaudernd stand.

„Gottlob, so nach und nach findet sie sich in die Verhältnisse,“ sagte die Mutter, und der Oberamtmann meinte: „Zeit wurde es.“

Ja, Mühlau war sehr klein. In einem Städtchen von achttausend Einwohnern muß man sich eines Tages begegnen.

Auf dem großen ovalen Marktplatz stand ein Brunnen. Aus einem spitzgekrönten, vielfach durchbrochenen, verrosteten, eisernen Aufbau fielen in vorsichtigen Bogen vier dünne Wassersträhne in ein achteckiges Bassin. Die blanke Wasserfläche war in einer ewigen Bewegung, Kreise zerstießen sich aneinander, Blasen schäumten, wo der Strahl sich in die Fläche bohrte. Die Mühlauer waren sehr stolz auf ihren Marktbrunnen. Das heißt, früher hatten sie auf das „alte Monstrum“ geschimpft und würden längst einen andern Brunnen dahingesetzt haben, wenn der Stadtsäckel es nur hätte erlauben wollen. Aber seit es Mode geworden war, märkische Geschichte zu treiben und alte Stücke aus den Zeiten der ersten Hohenzollern hochzuhalten, war der Mühlauer Brunnen ein Werk „guter gotischer Schmiedeeisenarbeit“, das vermutlich von Albrecht Achilles gestiftet worden war, worüber der Bürgermeister schon seit Jahren Erhebungen anstellte. Um diesen Brunnen breiteten sich jeden Sonnabend und Mittwoch die Marktfrauen mit ihren Warentischen und Körben aus. Es war dann beinahe ein Gewühl auf dem Markt.

Für Leo und Milly war es ein Hauptvergnügen, dazwischen umhergeführt zu werden.

Und da gerade, im Gedränge der Menschen, hinter sich den plätschernden, raunenden Brunnen, in einer Lücke zwischen zwei aufgespannten Marktschirmen, sah Sabine zum erstenmal Achim von Körlegg. Er ging mit Hallendorf und dem Bürgermeister Dorsten. Sie gingen nah’ vorüber. Nur der Gemüsestand einer Bauernfrau, die Sabine und dem Brunnen den Rücken kehrte, war zwischen ihnen.

Hallendorf und der Bürgermeister standen mit der Oberamtmannsfamilie auf dem Grüßfuß. Sie grüßten Sabine, Körlegg grüßte natürlich mit.

Sie neigte das Haupt. Sie sah nur ihn, nur seinen Gruß.

Sie vermochte lange nicht von der Stelle zu gehen.

Diese Begegnung machte ihr Bedürfnis, einmal, ein einziges Mal nur noch mit ihm zu sprechen, zu einem fieberhaften.

Ihre Blicke hatten sich getroffen. Was kann nicht alles in einem Blick liegen! Immer sah sie den seinen vor sich, und er schien sie zu fragen: Hassest du mich? Habe ich dich nicht doch beraubt? Kannst du mir vergeben?

Dieser flüchtige Wechsel von mehr erschreckten als inhaltsvollen Blicken erweiterte sich in Sabinens Phantasie zu einem ganzen Erlebnis.

„Man wird ihm hier meine Ehe und mein Leben in einem falschen Licht darstellen,“ dachte Sabine gequält, „er wird hören, daß ich eine sehr glückliche Frau war, und das wird ihn belasten.“

Die Mühlauer glaubten in der That, daß Sabine von Zeuthern in einer sehr befriedigenden Ehe gelebt habe.

Sie klagte gegen niemand. Nicht einmal gegen ihre Eltern. Sie war von dem Gedanken ausgegangen, daß eine Frau, die in glücklicher Ehe lebt, gern einmal über ihren Mann schelten und über die Schwierigkeiten der Ehe sprechen darf – das Glück in ihren Augen korrigiert die augenblicklichen Mißstimmungen, von denen der Mund spricht. Für eine unglückliche Frau giebt es nur Schweigen und Diskretion.

So wußte es kein Mensch, wie sie gedarbt, und wie sie gelitten hatte. Er aber, er sollte wenigstens die Wahrheit ahnen, damit sein Herz nicht beschwert bleibe.

(Fortsetzung folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0303.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2020)