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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Und wie reich war gestern die eine kurze Stunde gewesen – –

Sie gönnte dem Bruder das Glück, das er gefunden hatte, wenn es denn eben sein Glück so war. Susanne Osterroth – die wäre freilich mehr gewesen. Die war auch ein gesunder und einfacher Mensch wie Martha. Und dabei war Susanne hochgebildet. Neben ihr wäre Reinald kein Bauer geworden. Neben Martha aber – –

Ich habe dennoch meinen Bruder mit heute verloren, dachte Sabine noch. Aber sie fühlte sich trotzdem nicht ärmer als vorher.


5.

Herr von Hallendorf war mit sich einig geworden. Wie das so bei Verlobungen, Sterbefällen und anderen Familienereignissen geht, hatte man in Mühlau und auch im Offizierskasino die Voigtstedtschen und die Deubenschen Vermögensverhältnisse durchgesprochen. Hallendorf hielt den Oberamtmann bisher für einen Agrarier a. D. mit eben auskömmlicher Rente, die vielleicht der Sohn mühsam genug den Erträgnissen von Heinsdorf abzwacken müsse. Dies hatte er immer sehr beklagt, weil seine Verliebtheit in die schöne Sabine nie mehr als in einer kleinen Kokettage sich äußern durfte. Bei der kalten Haltung der jungen Frau war seine Flamme immer stärker geworden und er hatte oft Momente, wo er sich sogar für einen unglücklich Liebenden hielt und sich sehr beklagte.

Nun vernahm er, daß der Oberamtmann ein sehr vermögender Herr war; die Ziffern, die genannt wurden, und welche ihm der Bürgermeister, der es wissen mußte, bestätigte, klangen sehr lieblich in sein Ohr. Besonders gefiel ihm auch wohl, daß der Oberamtmann nur die Hälfte seines Vermögens, jene, welche der Sohn erbte, in Heinsdorf hatte stecken lassen. Auch brauchten die fast geizigen alten Herrschaften kaum die Hälfte ihrer Zinsen auf und vermehrten so ihr Kapital fortwährend.

Hallendorf rechnete mit Umständen und Zahlen und kam zu diesem Schluß: früher würde der Oberamtmann mit seiner Anlage zur Knauserigkeit ohne Zweifel jeden vermögenslosen Offizier als Freier abgelehnt haben; indes, wenn eine Tochter schon ein unglückliches Schicksal hinter sich hat, sind auch geizige Eltern zu einem Opfer bereit; von einer großen Summe, einem Kommißvermögen, brauchte der Alte sich so wie so nicht zu trennen; es genügte, wenn er der Tochter 6-–8000 Mark jährliche Zuschüsse gewährte; die gute Stimmung, in welche der Vater durch die Verlobung des Sohnes versetzt worden war, mußte benutzt werden; Reinald Deuben konnte seinem Alten vorstellen, daß ein Hauptmann erster Klasse immerhin keine schlechte Partie sei und daß man doch eventuell Sabinen, die so viel gelitten hatte, auch einem armen Leutnant nicht verweigern würde, wogegen ein Hauptmann ohne Vermögen doch das kleinere Uebel sei. Außerdem steckt Verloben immer an, das ist ein Erfahrungssatz – der alte Deuben war sozusagen mit dem Segnen im Zuge!

So dachte Hallendorf. Daß Sabine und er sich bei näherer Bekanntschaft nicht zusagen könnten, dachte er nicht. Seine Gedanken eilten schon soweit vorwärts, daß er daran dachte, für ein Kommando in einer großen Garnison zu „bohren“. Mit so einer Frau mußte man in die Welt. Die half Carriere machen.

Er vertraute sich Deuben als „Kamerad“ an, nahm ihm aber den Schwur ab, weder Sabinen noch ihren Eltern vorerst eine Silbe zu verraten. Reinald wollte gern die Hand dazu bieten, daß Hallendorf und Sabine einigemal bei ihm wie auf Wendessen zusammen eingeladen würden; er war selbst so glücklich als Verlobter, daß er die Schwester auch gern glücklich gewußt hätte. Er besprach den Fall mit seiner Martha, und Martha war entzückt, eine solche Verbindung protegieren und zustande zu bringen helfen zu dürfen.

Hallendorf, der mager und groß war und etwas stelzbeinig einherschritt, was ihm mit seinem langflatternden weißblonden Schnurrbart etwas sehr Charakteristisches gab, nahm zunächst einen Kredit bei der Kleiderkasse des Regiments in Anspruch und wandte etwas an seinen Anzug.

Er erhielt eine Ermutigung durch den Gegenbesuch, den der Oberamtmann ihm machte, wozu der alte Herr eine Zeit benutzte, wo die als Wache am Fenster postierte Oberamtmännin den Ausgang Hallendorfs beobachtet hatte, was natürlich dieser nicht ahnen konnte. Er fand die Karte und dachte: Aha!

Im Laufe der Woche aber ereignete sich etwas, das Hallendorfs Schlachtplan vorerst zu einem theoretischen Entwurf herabdrückte. Der kleine Leo erkrankte sehr heftig an den Masern, obschon Doktor Sebold die Epidemie für erloschen erklärt hatte und sich darüber ausließ, daß es gegen alle Berechnung und Erwartung sei, Leo davon ergriffen zu sehen; daß es geradezu gegen die Statistik gehe.

Das machte nun Sabine sehr ungeduldig: ob innerhalb einer oder gegen eine medizinalbehördliche Statistik, ihr angebeteter Knabe war krank und das kam für sie als Mutter auf dasselbe heraus, als wenn er während der Epidemie erkrankt wäre!

Sie zog sogleich mit dem kleinen Patienten in das Giebelzimmer hinauf; dort standen an der einen Wand drei mächtige Schränke, hellgelb und gemasert angemalt, an der andern Wand deren zwei und dazwischen ein Bett. Straßenwärts gingen zwei Fenster; am Pfeiler, unter einem schmalen Spiegel, stand ein Waschtisch. In diesem öden Raum hauste jetzt Sabine. Leos Bettchen stand mitten darin. Und weil ihm die Augen wehthaten, waren die Rouleaus stets herabgelassen.

Viele Tage hatte er starkes Fieber, und Sabine verzehrte sich vor Angst. Sie wachte Tag und Nacht, und Doktor Sebold wurde ein bißchen still.

Er hatte Sabine für unpraktisch gehalten, auch für nicht sonderlich aufopferungsfähig und zuverlässig und am ersten Tag der Erkrankung auf Annahme einer Wärterin gedrungen, was Sabine schroff abwies. Nun sah er, daß die Pflege so war, daß er selbst sie als „ideal“ bezeichnete. Anerkennend sprach er zu den Eltern davon, die mit Stolz und Rührung sagten, das verstehe sich bei ihrer Sabine von selbst. Aber zugleich seufzten sie oft und schwer über all die Unbequemlichkeiten, welche die Krankheit für sie mitbringe. Der impertinenten Lisbeth konnte man Milly weder Nacht noch Tag anvertrauen. Sebold drückte ihnen teilnehmend die Hand.

Für Sabine rannen die Tage so still. Sie meinte, es müßten schon hundert sein. Und doch waren es nur erst acht. Draußen zog eine kleine Regenzeit vorüber, Sabine hörte die Tropfen gegen die Scheiben schlagen. Sie sah nicht den grauen, tristen Himmel, denn das blasse Papierrouleau mit der großen Gruppe sepiafarbener Tropenpflanzen darauf verbarg ihr die Welt.

Drüben trat oft Hallendorf an sein Fenster und sah nach oben, hinüber zum Giebelstübchen. Immer noch verhangene Fenster! Aber dies war die Gelegenheit, sich wohlthuend bemerkbar zu machen. Jeden Morgen schickte er seinen Burschen mit der Anfrage nach Leos Befinden. Manchmal brachte der Bursche auch ein Paar Rosen mit „vom Herrn Hauptmann für seinen kleinen Freund“. Sabine war ganz gerührt. So viel Gemüt hatte sie Hallendorf gar nicht zugetraut. Sie schämte sich, daß sie sich manchmal über seinen Gang mokiert hatte, und sann darüber nach, wie man ihm nach Leos Genesung danken und sich revanchieren könne.

Die Seelenbewegungen, denen sie in dieser Zeit ausgesetzt war, erreichten in einer bangen Nacht ihren Höhepunkt.

Ein Gewitter ging mit grellen Lichtzuckungen und krachendem Gelärm nieder. Der blasse Schein der Nachtlampe ward alle Augenblicke übergrellt. Unten im Hause war es laut, denn der Oberamtmann, als einstiger Landwirt, wäre um die Welt nicht beim Gewitter im Bett geblieben.

Sabine kniete mit gefalteten Händen neben dem Bettchen des Kleinen; ihre ängstlichen Augen waren groß und in fast übernatürlicher Sammlung all ihrer Kräfte auf das Kind gerichtet. Sie bewachte seine Mienen, seine Farbe, seinen Atem, seine Bewegungen. Er phantasierte. Kindische und ganz verworrene Worte kamen von seinen Lippen. Und darunter eines, das Sabine bis ins tiefste erbeben machte. Er rief nach seinem Papa!

„Sieh mal, Papa!“ – Und dann, zwischen Stöhnen, Flüstern, Unruhe wieder: „Papa, Papa, ein Löwe!“

Aus dem Untergrund der Seele hatte sich die Erinnerung wieder aufgereckt, und was das Kind in der lebhaften Regsamkeit seines kleinen Geistes über alle Ereignisse des Tages schon vergessen zu haben schien, war nun wieder gegenwärtig geworden.

Offenbar beschäftigten sich seine Phantasien mit dem ersten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0331.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2020)