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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

und zugleich einzigen Besuch des Zoologischen Gartens, den Zeuthern mit dem kleinen Sohn unternommen hatte.

Sabine zitterte und fror. Ueber ihre Wangen rannen Thränen. Sie beachtete es nicht. –

Am andern Morgen sagte Sebold, daß man nun über den Berg sei und „die Geschichte mit mehr Pomade ansehen könne“. Er befahl Sabinen einen täglichen Gang ins Freie von mindestens einer halben Stunde. Als sie sich sträubte, ihren Knaben auch nur für Minuten zu verlassen und der wenig mitfühlenden Lisbeth anzuvertrauen, stellte Doktor Sebold ihr vor, daß sie auch Pflichten gegen die kleine Milly habe, die sehr nach der Mama verlange und mit der eine Begegnung nur ratsam sei nach vorheriger „Auslüftung gründlichster Art“ im Freien. Das sah die junge Frau ein.

Am zehnten Tage nach Leos Erkrankung unternahm sie den ersten Spaziergang. Sie schlug den Weg nach dem Heidegelände ein, wo auf trockenen, niederen Hügeln ein junger Kiefernstand die Luft mit harzigen Gerüchen füllte. Noch stand geballtes Gewölk in phantastischen Gruppen vor dem Himmel und ließ die Fragmente der blauen Luft, die sichtbar waren, um so tiefer blau erscheinen. Die Frische des leisen Windes wehte Sabinen angenehm ins Gesicht. Sie freute sich, als sie erst aus dem Thore war, denn auf der Straße redeten sie nacheinander der Bürgermeister Dorsten, Frau Rechnungsrat Müller und der Leutnant von Langhans auf das Befinden ihres Kindes an.

Draußen war es einsam. Die Mühlauer gingen Werktags nicht spazieren und erst recht nicht, wenn das Wetter unsicher schien. Auf dem Fahrwege rannen die Furchen zusammen, wie im Sand von Meeresufern; an der einen Seite war auf der grauen Rasennarbe des Bodens ein Fußpfad niedergetreten, da ging Sabine, ihren geschlossenen Regenschirm wie einen Stock benutzend.

Lautlos war ihr Schritt.

Lautlos auch der des Mannes, der hinter ihr her hastete. Um sie nicht zu erschrecken, rief er schon von weitem:

„Gnädige Frau – gnädige Frau!“

Sie drehte sich um und errötete. „Herr von Körlegg,“ sagte sie.

„Ich sah Sie an meiner Wohnung vorbeigehen – ich bin aus dem ‚Kronprinzen‘ nun in eine Privatwohnung gezogen – in der Berliner Straße,“ erzählte er hastig. „Ich sah Sie – und wartete einige Minuten, um Ihnen unauffällig folgen zu können … ich muß es wissen, von Ihnen selbst … wie geht es Ihrem Knaben?“

Ihre Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht strahlte in Dankbarkeit. „Befriedigend,“ sagte sie, „Gott sei Lob und Dank, sehr befriedigend, sonst hätte ich Sebold nicht gehorcht und wäre nicht fortgegangen!“

„Gottlob!“ sagte auch er aus tiefstem Herzen und drückte ihr heftig die Hand. „Gewiß, niemand auf der Welt, selbst Ihre Eltern nicht, haben diese Tage mit Ihnen gebangt und gelitten wie ich! Und welche Pein, nur unbestimmte Nachrichten zu hören – jede direkte Frage vermeiden zu müssen! Bei Tisch, im Kasino sprach das eine und andere Mal Hallendorf sehr besorgt, sehr schmerzlich davon. Er, als Intimus Ihres Hauses, schien genau vom Stand der Dinge unterrichtet – aber wenn er nicht von selbst etwas erzählte – fragen mochte ich ihn nicht.“

„Herr von Hallendorf der Intimus unseres Hauses?“ fragte Sabine erstaunt, „wie kommen Sie darauf? Er verkehrt häufiger bei meinem Bruder auf Heinsdorf – so werden Sie das verwechselt haben! Herr von Hallendorf hat aber in so rührender Weise sich täglich nach Leos Befinden erkundigen lassen, dafür bin ich ihm sehr dankbar.“

Achim schwieg etwas verlegen. Er mochte und wollte nicht sagen, daß Hallendorf in geradezu prahlerischer Weise seine Beziehungen zur Familie Deuben zu betonen pflegte und auch zugleich in so eigenartiger Weise, daß er voll Staunen und Schreck schon die Frage bei sich erwogen hatte, ob es denn menschenmöglich sei: Sabine und Hallendorf? Und gerade für ihn, der einen Einblick in ihre hungernde Seele gethan, lag die Furcht so nahe, daß Sabine, nur um eine Veränderung ihrer Daseinsform herbeizuführen, den ersten Besten trotzig nehmen werde. Doch Hallendorf? – Nein, das war nicht der Mann, der Achim wertvoll genug für solches Glück däuchte!

Sie gingen nebeneinander her, Achim im Sande des Fahrweges watend. Vor ihnen war der Blick verschränkt durch die ansteigende Bodenwelle, auf der die rötlich schilfrigen Kiefernstämmchen in regelmäßigen Reihen sich hinanzogen. Oben stand die willkürlich ausgebogene Linie der graugrünen Kiefernwipfel vor einer silberweißen Wolkenmauer.

„Wenn ich Ihnen meine schlaflosen Nächte schildern könnte,“ hob er an, „ich sah im Geist das fiebernde Kind – irgend jemand sagte eines Tags, es müsse wohl sterben – ich sah Sie verzweifelt um das teure Leben kämpfen. Und ich zitterte, daß Sie, deren ganzes, deren letztes Glück diese Kinder sind, eines verlieren müßten! In diesen Tagen erst sah ich es völlig ein, wie sehr Ihr ganzes Leben heimlich mit dem meinen verbunden ist.“

„Ich danke Ihnen,“ murmelte Sabine, „ich danke Ihnen sehr.“

„Sie sehen angegriffen aus. Sie haben gelitten! Das war zu denken. Und Leo? Erzählen Sie mir …“

Das war keine gemachte Teilnahme, sie fühlte, daß sein ganzes Wesen sich in Ergriffenheit befand.

Gilt mir das – mir, um meiner selbst willen? dachte sie mit Herzklopfen, oder ist das alles nur Aeußerung des tiefen Ernstes, mit welchem er des von ihm Getöteten denkt?

„Ja, Leo ist sehr krank gewesen. Seine Aermchen sind mager zum Erbarmen und sein ganzes Gesicht ist Auge. Aber diese großen Wunderaugen thun ihm weh. Wir müssen noch lange vorsichtig bleiben und im halbdunklen Zimmer sitzen. Und phantasiert hat der arme kleine Mann … oh, es war schrecklich!“

Plötzlich war ihr es ganz deutlich, so daß sie erschrak und ihre Stirn sich vor Entsetzen feuchtete, als dringe durch die raunend bewegten Kiefernkronen eine klägliche Kinderstimme, die rief: Sieh mal, Papa – Papa, wo bist du?

„Arme Sabine – arme Sabine,“ murmelte er.

Sie hörte es nicht.

„Ich muß zurück,“ brachte sie heraus, „ich bekomme plötzlich solche Angst … Das Mädchen ist nicht zuverlässig …“

„Aber morgen darf ich Sie wieder selbst fragen, wie es Ihrem Knaben geht?“ sprach er und sah sie bittend an. Sie aber hielt die Lider gesenkt.

„Ich weiß nicht, ob ich morgen ….“

„Jedenfalls bin ich um dieselbe Zeit hier am Saum der Schonung“, sagte er bestimmt, „auch auf die Gefahr hin, vergebens warten zu müssen.“ –

Er brauchte nicht vergebens zu warten. Am andern Tag war sie ruhelos und verzehrte sich in Kämpfen und suchte sich in Vorsätzen zu stärken. Aber einem übermächtigen innern Zwang gehorchend, fand sie sich zu einem hastigen Stelldichein rechtzeitig zur Stelle. Und hastig blieben auch die Begegnungen an allen folgenden Tagen. Frage und Antwort wurde schnell gewechselt. Sabine fühlte sich dabei gehetzt wie ein Schuldiger auf der Flucht. Aber fortbleiben, sich die namenlose Aufregung dieses knappen Zusammentreffens ersparen – nein, das konnte sie nicht, das wollte sie nicht.

Achim bat einmal um die Erlaubnis, den kleinen Rekonvalescenten, von dessen Langerweile Sabine erzählte, ein Spielzeug mitbringen zu dürfen.

„Nein, nein!“ sagte sie. „Und ich könnte es auch gar nicht ins Haus schmuggeln. Wo sollte ich es her haben? Sie sehen, ich bin so unfrei, daß ich nicht einmal meinem Jungen ein Pferdchen mitbringen könnte, ohne zu erklären, wo ich es kaufte und wie viel es kostete.“

Drei Tage danach bekam Leo eine an ihn selbst adressierte Kiste mit allerlei Spielzeug. Die Absenderin war eine große Berliner Spielwarenhandlung, die nur dabei bemerkt hatte: „im Auftrage“.

„Natürlich vom lieben Onkel Benno,“ sagte Sabine und wußte doch genau, daß der Leutnant von Zeuthern sich nicht einmal an Weihnachten zu einer so reichen Gabe aufraffte. Sie packte die Kiste fast mit Andacht aus und zeigte jedes Stück dem vor Freude jubelnden Kind mit selbst vor Freude glänzenden Augen.

Als Achim sie am andern Tage fragte: „Langweilt Leo sich noch so sehr?“ sah sie ihn nur mit lachenden, leuchtenden Augen an und sagte: „Sie wissen, daß er beschäftigt ist!“

„Ich – woher sollte ich?“ Er that unschuldig und lachte auch.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0332.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2020)