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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Einmal fuhr sie in die Stadt, weil sie sich sehr über das Befinden ihres Vaters beunruhigte. Wenn der alte Herr es in den Füßen hatte, führte ihre Mutter auch kein leichtes Leben, ärgerte sich über die Reizbarkeit des Gatten und litt infolgedessen mehr an der Leber.

Doch fand sie die Eltern in unerwartet leidlichem Zustande. Der Oberamtmann trank geduldig „seinen“ Thee, die Oberamtmännin ebenso gewissenhaft „ihren“ Brunnen. Man merkte wohl, sie entbehrten die Gegenwart und Pflege der Tochter nicht, Guste verstand sich völlig auf die Bedürfnisse und Stimmungen ihrer Herrschaft. Und die Oberamtmännin ließ sogar einfließen, „es sei auch jetzt so schön still im Hause“. Der Alte gab ihr wieder einmal einen heimlichen Knuff, den aber Sabine sah und der für ihr Empfinden die Aeußerung der Mutter nur noch verschärfte.

Als sie nach Heinsdorf zurückfuhr, sah es schlimm in ihr aus.

„Wohin ich sehe: es ist im Leben kein Platz für mich. Nirgends habe ich ein Recht. Man duldet mich nur. Nicht einmal das Recht soll ich haben, zu lieben, wo ich liebe!“

Hallendorf begegnete zu Pferde ihrem Wagen. Er hielt sein Pferd an und beklagte, die gnädige Frau draußen verfehlt zu haben.

Sabine begriff sich selbst nicht ganz: aber wie ein Blitz zuckte der Gedanke durch ihr Hirn: wenn ich wieder heiratete – zum Beispiel diesen Mann da! Dann wäre alles zu Ende: die Hoffnung, die Qual, die Heimatlosigkeit! Stolz und höhnisch trete ich Achim gegenüber: – „du hattest keinen Mut – siehe, was ich nun gethan habe!“ Holdselig lächelte sie Hallendorf an. Der sah nicht, daß nur der Mund so lächelte, daß der Ausdruck leer und künstlich war. Hochbeglückt ritt er von dannen. Nun schien er nahe am Ziel! Er beschloß, noch vor dem Manöver das Jawort sich zu holen. Dann konnte man gleich nach dem Manöver heiraten.

Auf Heinsdorf fand Sabine wieder einmal Martha und ihre Mutter vor. Immer mehr sah es Sabine ein, daß Martha ein tüchtiges Menschenkind war, mit einem warmen, selbstlosen Gemüt und mit einer Fülle praktischer Kenntnisse; Reinald konnte keine bessere Frau bekommen. Aber es machte sie nervös, wie das Brautpaar aneinander klebte. Immer standen sie Hand in Hand oder Reinald mit dem Arm um Marthas Taille, oder Martha mit der Hand auf Reinalds Schulter. Es reizte sie auch, daß es Menschen gab, die sich so ungehindert ihres stillen, kleinen Glückes freuen durften. Bei denen wuchs nichts über das Maß hinaus! Da gab es keine Verzweiflung und keine Not des Herzens!

Nach einer schlaflosen Nacht, die ihr nicht einmal die Wohlthat eines Thränenausbruches brachte, stand sie vernichtet auf.

Ich kann nicht mehr! dachte sie.

Da brachte ihr die Morgenpost einen Brief, dessen Aufschrift ihr schon die Fassung raubte. Gerade saß Milly auf ihrem Schoß, und gerade wollte Leo von ihr wissen, ob der Storch auch die kleinen Kälber bringe, heute nacht sei eines im Stall angekommen. Sie schickte die Kinder fort, auszugucken, ob Onkel Reinald schon vom ersten Inspektionsritt heimkomme, und dem die Storchfrage vorzutragen.

Er hatte geschrieben! Der Brief brachte ihr das Leben zurück!

„Teure, hochverehrte gnädige Frau! Auf meine Zeilen, die ich Ihnen vor vierzehn Tagen sandte, haben Sie geschwiegen. Ich durfte es nicht anders erwarten. Wenn mir auch dies Schweigen zu verbieten scheint, mich Ihnen brieflich noch einmal zu nähern, so muß ich dennoch einem sehr angstvollen Gefühl gehorchen und Ihnen schreiben. Fortwährend höre ich davon sprechen, daß Sie erschreckend leidend aussehen. Ich flehe Sie an, beruhigen Sie mich durch ein einziges Wort über Ihre Gesundheit. Mir scheint, das Schicksal hat mich vorbestimmt, die Ursache aller Ihrer Leiden zu sein, und die Furcht will nicht von mir weichen, daß mein neulicher Brief vielleicht allzu lebhaft Ihre Erinnerungen an den erlittenen Verlust aufgewühlt hat. – Irre ich mich, verzeihen Sie mir die Zudringlichkeit der Frage und strafen Sie mich durch Schweigen. Beinahe scheint es, daß ich mich irren könnte! Denn Hallendorf, welcher mit den Kameraden offen von Gefühlen und Hoffnungen zu sprechen pflegt, die man sonst höchstens einem intimsten Freunde anvertraut, deutet an, daß wir noch vor dem Manöver eine Verlobung im Regiment haben werden. Wird das wahr, dann, meine teure gnädige Frau, wissen Sie, wer mit blutendem Herzen, aber in heiligem Ernst den Segen des Himmels auf Sie herabfleht. Hallendorf betet Sie an. Er darf es. Er! Wie sollte er nicht danach streben, Ihnen Glück zu geben!

Darf auf eine Zeile über Ihre Gesundheit hoffen
 Ihr stets ergebener
 A. v. K.“

Wie kennt er mich! dachte Sabine jubelnd. So scharf sieht nur die Liebe. Er hat gefürchtet, daß ich aus Trotz Hallendorf heiraten könne! Und habe ich es nicht schon zwei Minuten lang vorgehabt! Seine Eifersucht ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht auch die Sorge nicht. – Jedermann hat mir’s ja förmlich ins Gesicht geschrieen, daß ich krank aussähe. – Ich bin eben keine von denen, die lachen können, wenn ihnen heimlich das Herz bricht.

Lange dachte sie darüber nach, ob die Stelle, wo er auf den „erlittenen Verlust“ hinwies, eine Redensart sei – gemacht, um nicht offen einzugestehen: ich weiß, du leidest um mich; oder ob er wirklich des Glaubens lebte, sie habe an ihrem Gatten den Gefährten einer glücklichen Ehe verloren.

Sie antwortete noch am gleichen Vormittag und schrieb:

„Was sollte ich einem Manne sagen, der mir gestand, daß er eine Gefahr flieht? Ich dachte immer, es sei Mannespflicht, die Gefahr nicht zu scheuen. – Sie sprachen so oft zu mir davon, daß ich über Ihr Leben und Ihr Gut verfügen könne. Und Sie entziehen mir die Wohlthat, die für mich darin lag, zuweilen mit Ihnen mich aussprechen zu dürfen. Denn Sie allein wissen es, daß ich sehr einsam bin. Mit Ihnen darf ich und kann ich, gerade in Anbetracht des ungewöhnlichen Schicksals, welches uns in einem Atem trennt und bindet, alles besprechen. Gerade in diesem Augenblicke bedürfte ich eines Freundes, der mir rät. Daß mein Leben so nicht weiter gehen kann, ist mir klar. Meinen Eltern eine Last, bei meinem Bruder nur Gast – heimatlos bin ich. Liebe geben mir die Meinen; sie sind reich obenein. Dennoch darbt mein Herz und ich stehe da fast wie eine Bettlerin.

Wollen Sie mir eine Stunde schenken, damit ich Ihnen mein früheres Leben darlegen kann? Wollen wir dann fortan auf jeden direkten Verkehr miteinander verzichten, so lassen Sie uns nicht scheiden in der Form, die Ihr Brief von neulich uns auferzwang, sondern als Menschen, die nicht als Fliehende, sondern als Erkennende einander meiden.

Morgen abend muß ich meinen Bruder nach Wendessen begleiten, Sie werden schon wissen, daß mehrere Herren vom Regiment dorthin Einladungen zu einem Fest erhielten. Aber übermorgen abend. Ich erwarte Sie.
  Sabine.“

Als Achim diesen Brief erhielt, erschreckte ihn der entschlossene Ton. Vor dem Vorwurf, den die Eingangszeilen ihm machten, rötete sich sein Gesicht. Und doch fühlte er sich getroffen. Auch ihm schien plötzlich, daß es mutvoller gewesen sei, sich zu bezwingen, als Sabine zu meiden. In der Angst um Sabinens Gesundheit, in der brennenden Neugier, ob sie sich wirklich mit Hallendorf verloben werde, konnte er sein Vorgehen von damals gar nicht begreifen. Jetzt, wo er die verhängnisvollen Zauber ihrer Gegenwart nicht auf sich wirken fühlte, jetzt glaubte er, fest genug gegen jede Gefahr gefeit zu sein. – Ihre Betrachtungen über die Notwendigkeit, ihr Leben anders einzurichten, nahm er für ein Zeichen, daß sie doch sehr ernstlich an eine Heirat denke.

In verzehrender Ungeduld wartete er auf den bestimmten Abend. Am Mittag hörte er den Festbericht von Wendessen. Das Ereignis des Abends war gewesen: Sabine von Zeuthern hatte ihre Halbtrauer abgelegt. In einem hellen Gewand von grünlicher Seide, mit einem leuchtenden Glanz in ihren nächtigen Augen war sie geradezu unheimlich schön anzusehen gewesen. Langhans sagte etwas von „Melusine“ und „dämonischem Zauber“. Bläser erklärte ihren Hals und ihre Arme für klassisch und stellte fest, daß sie wie ein Schwan unter Hennen ausgesehen. Hallendorf sagte heute nichts, sondern strich sich unruhig den Schnurrbart, lächelte geheimnisvoll und hatte einen roten Kopf.

In Achim wuchs die Sehnsucht. Ein heimlicher Stolz erfüllte ihn. Dies Weib, über das sie alle redeten wie über ein schönes Rätsel – er allein kannte es genau. Er allein war ihr wert.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0363.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2020)