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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Diesmal brauchte er nicht auf sie zu warten. Sie saß schon unter der Franzosenlinde, als er vom Dorf her zu Fuß einen schmalen Waldweg heraufkam. Schon von weitem sah er sie sitzen. Sie aber konnte ihn noch nicht sehen, und er gönnte sich die Wonne, lange Minuten sie heimlich zu betrachten.

Ja, die Kameraden hatten recht, wenn sie in überschwänglichen Ausdrücken von ihr redeten. In ihrer düsteren Schönheit lag ein Reiz ohnegleichen. Selig der Mann, der sie besitzen durfte!

Er kam hinter den Stämmen, die ihn verborgen hatten, hervor. Jede Besinnung verließ ihn, er eilte auf sie zu und kniete neben ihr nieder, ihre Hände mit Küssen bedeckend.

„Nicht so …“ bat sie zitternd.

Er erhob sich. „Ja, wir wollen ruhig sein,“ sagte er.

Sie saßen wieder nebeneinander. Aber diesmal breitete sich kein lachender Abendfriede vor ihnen aus; der überwölkte Himmel verbarg die Sonne. Nach einem frischen Regentag waren Rasen und Büsche noch von Feuchtigkeit schwer. Unten auf dem Fluß kroch ein Kettendampfer hin, seine schwarze, wolkige Rauchfahne ward von der schweren Luft niedergedrückt.

„Meine Kameraden,“ begann Achim, „haben mir heute mittag viel zu hören gegeben. Sehr heiter und schön seien Sie gewesen; in einem farbigen Festkleid hätten Sie geglänzt. Muß ich da noch fragen: leiden Sie noch? Darf ich weiter fragen: war das schon bräutliche Freude?“

Sabine lächelte ein wenig. „Das Festkleid galt nicht der Gesellschaft, sondern mir selbst – einer heimlichen Freude! Ich leide nicht mehr, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Und von einer Brautschaft ist noch keine Rede. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: bis vor ungefähr fünf Tagen habe ich gar nicht bemerkt, daß Hallendorf mir die Kur macht.“

„Nicht bemerkt! Eine Frau und nicht bemerken, wovon ganz Mühlau seit Monaten spricht,“ rief er.

„Ach nein. Ich bin nicht kokett. Es ist mir so gleichgültig, ob ich den Männern gefalle. Und ich war so beschäftigt! Meine Gedanken waren so ganz, ganz ausgefüllt. Aber neulich war mein Herz so voll Bitterkeit. Ich fühlte mich so heimatlos. Da – o mein Freund, Sie kennen mich gut – da …“

„Was: Da? …“ drängte Achim.

„Da dachte ich trotzig, ich wolle irgend einen heiraten. Ich äußerte dergleichen meinem Bruder gegenüber und er verriet mir, daß Hallendorf mich liebe – oder vielmehr, daß er sich einbildet, mich zu lieben. Und dann, auf dem Fest gestern, da mußte ich es wohl bemerken. Mein Bruder und seine Braut scheinen sehr eingenommen für die Idee. Sie finden sie vernünftig. Nun habe ich meine Vernunft gefragt, was sie findet …“

„Und …“

„Und ich will mit Ihnen beraten, was klug, was gesund ist,“ sprach Sabine. „Sie wissen, daß ich Hallendorf nicht liebe. Reinald, der es wissen muß, sagt, Hallendorf begnüge sich mit meiner Achtung. Soll ich nun auf dem Fundament der Achtung eine Vernunftheirat eingehen? Still – Sie können noch nicht antworten. Ich will erst zu Ihnen sprechen! Wenn es hart klingt, was ich sage, – richten Sie mich nicht!“

Erwartungsvoll sah Achim sie an. Es fiel ihm auf, daß ihr Blick ihn mied und sich in unbestimmte Fernen richtete.

„Erfahren Sie denn, daß ich meinen Mann nicht geliebt habe und in einer sehr unglücklichen Ehe lebte.“

Er erschrak furchtbar vor der Härte ihres Ausdruckes und der Härte der Thatsache. Zugleich überkam ihn ein Gefühl von Unruhe. Ihm war, als fiele eine der Schranken zwischen ihm und Sabine, als habe er da eben etwas erfahren, das sein Gewissen und seine Ehre schmeichlerisch vergiften könne. „Weshalb haben Sie Herrn von Zeuthern denn geheiratet?“ fragte er.

Sie sah ihn immer noch nicht an.

„Weshalb heiratet man, wenn man siebzehn Jahre ist? Von hundert Frauen werden Ihnen nur zwei antworten dürfen: aus voll erkannter Liebe, die sich auch erprobte. Und die Achtundneunzig? Die meisten werden nicht den Mut der Wahrheit haben. Viele kommen auch nicht zur Erkenntnis. Aber ich, warum sollte ich mich schonen? Wenn man so viel gelitten hat, wird man unbarmherzig wahr gegen sich. Ich heiratete aus Neugier, aus der Einbildung verliebt zu sein, geschmeichelt, hauptsächlich wohl aber aus der Lust an Veränderung. Die machte schon meine Kindheit phantastisch und unruhig. Wenn Wochen vergingen, ohne daß etwas geschah, bekam ich einen förmlichen Hunger nach Ereignissen.“

„Und aus einer solchen Sucht nach Veränderung könnten Sie zum zweitenmal einen ungeliebten Mann heiraten?“ fragte er entsetzt.

Nun sah sie ihn voll an.

„Die Verhältnisse liegen heute anders,“ sagte sie mit schwermütigem, sanftem Ausdruck, „was ich damals that, geschah in Selbsttäuschung, aus Illusion. Damals kannte ich mich nicht, wie ich mich heute kenne. Damals war ich schön, jung, reich. Das Leben lag vor mir; verstand ich zu warten, konnte mir das Glück kommen. Aber ich war thöricht und verstand weder das Leben noch mich. Jetzt – mein Gott – ich habe alle Illusionen begraben. Auch mein Geld habe ich verloren und damit die Freiheit, die es giebt. Meine Eltern ernähren, ein guter Verwandter meines Mannes kleidet mich. Meine Eltern können sich nicht zu der Vorstellung aufschwingen, daß ihnen und mir besser gedient sei, wenn sie mir von ihrem großen Vermögen eine Rente aussetzten. Die bescheidenste genügte mir. ‚Was würden die Leute sagen, wenn du nicht bei uns lebst!‘ Die Leute – die sind auch ihre Herren! Die Herren fast von uns allen. Aber von mir nicht – nein, von mir niemals,“ rief sie leidenschaftlich.

„Hallendorf ist aber keine Versorgungsheirat,“ sprach Achim. Alles alles verletzte und quälte ihn sehr. Sabine lächelte.

„Bei der ungemeinen Inkonsequenz, welche mit dem Vorurteil immer Hand in Hand geht, bin ich sicher, daß Papa meinem Gatten, wenn ich wieder heirate, noch einmal so viel Geld, wie er mir verweigert, als Zuschuß giebt. Die unversorgte Tochter gehört ins Elternhaus; für die standesgemäß verheiratete etwas zu thun, gebietet die Familienehre. Lachen Sie doch mit darüber!“

Aber es war ihm unmöglich.

„Sie begehren meinen Rat? Sie thaten wenigstens so. Mir scheint aber, Sie sind entschlossen,“ sagte er finster.

„Vielleicht,“ sprach sie mit rätselvollem Ausdruck. „Es giebt da noch einen Grund …, was schrieben Sie doch neulich von Gefahren, die man besser flieht?! Eine vernünftige Ehe hat etwas von einem Zufluchtsort.“

Er glaubte, Spott aus ihren Worten zu hören, und antwortete gereizt. Sie wußten es selbst nicht, wie es gekommen war, aber feindlich und kalt saßen sie nebeneinander.

„Nun, Sie haben es ja erprobt, was dabei herauskommt,“ bemerkte er.

„Doch nicht. Meine Ehe war eine Illusionsehe, keine bewußte Vernunftehe, sagte ich Ihnen schon. Aber sie hätte trotzdem gut ausgehen können. Mir scheint, ich war ein Material, aus dem sich etwas hätte machen lassen. Die Seele eines jungen Weibes ist für den Ehemann wie das Pfund in der Bibel, das er klug verwalten muß, wenn es ihn bereichern soll. Mit den Schätzen, die vielleicht auch in meiner Seele lagen, hat er nicht gewuchert. So sind sie verkümmert.“

„Nein, Sabine!“ rief er plötzlich wieder aufwallend, „nicht verkümmert! Tausend Reichtümer sind in Ihnen …“

Sie lächelte schmerzlich.

„Und die ungenützt dahinrosten. – Sehen Sie, damit meine Ehe glücklich werde, hätte es vielleicht schon genügt, daß ich zu meinem Manne aufzublicken vermocht hätte. Aber er … er hatte Streberwünsche ohne Strebermut; er hatte unanständige Gedanken, aber infolge von Feigheit und Erziehung handelte er anständig. Er schlug nie drein mit ehrlicher Männerfaust – er nörgelte und schimpfte. Ah – das ist nicht für eine Frau, die denkt, nicht für eine Frau, die Enthusiasmus hat. Gern hätte ich teilgenommen an allem, was ihn beschäftigte. Aber das Kleinliche widert mich an.“

„Und Sie wähnen, in Hallendorf einen Mann von großen Zügen zu finden?“ rief er erstaunt. Er sah sie scharf an.

Sie saß und schaute vor sich nieder. Ueber ihr Gesicht zog wechselnder Ausdruck – er sah, sie kämpfte mit einem Entschluß.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0364.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2020)