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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sie derzwingt’s … passen S’ auf, sie derzwingt’s! Aber ein’ Laut von Ihnen … ein’ Merker von ihr, daß wer da herunten steht, und Sie g’rad’, Sie, Herr Fürst … und sie hat ihr’ Ruh verloren und …“ der Jäger sprach das Wort nicht aus, das ihm schon auf der Zunge lag. „In Rauch und Nebel hat s’ den Steig verfehlt und hat sich in d’ Wand’ verstiegen. Jesus, Jesus Maria… Was muß das Fräul’n für ein’ Weg g’macht haben in der Nacht!“

Nun standen sie regungslos hinter dem Felsblock und spähten durch den ziehenden Rauch in die Wand hinauf. Sie sprachen kein Wort mehr, aber es hämmerte in ihrer Brust, daß einer den Herzschlag des anderen hören konnte. Mit beiden Händen klammerte sich Ettingen an den Fels und preßte die Lippen aufeinander, um auch den Ton seines Atems noch zu ersticken.

Immer wieder schloß er die Augen, als ginge die Marter dieses Anblicks über seine Kräfte – und immer wieder spähte er hinauf mit einem Blick, in dem seine ganze Seele war, all seine Angst und all sein Hoffen. Und fielen Steine aus der Wand, dann zuckte er zusammen, als träfe ihn jeder Steinschlag ins Leben.

Sie schwirrten und sausten, diese stürzenden Steine, und wenn sie das Griesfeld erreichten, machten sie noch weite Sprünge. Der Staub, den sie aufwirbelten, dampfte an der Felswand empor und mischte sich mit den Schleiern des braunen Qualmes. Der umhüllte bald die Verirrte in der Wand, bald gab er sie wieder frei. Mit ausgebreiteten Armen die Brust an die Felsen schmiegend, suchte sie Tritt um Tritt. Manchmal blickte sie über die Schulter in den Abgrund, wie um den Weg zu messen, den sie noch finden mußte. Tiefer und tiefer kam sie, und eine glattgeschwemmte Wasserfurche überspringend – Ettingen zitterte, als sie sprang – erreichte sie ein Steinband, das ihr sicheren Grund für die Tritte gab. Sie ging, bis das Band zu Ende war, und dann rastete sie, lange, lange, wie um all ihre Kraft für dieses letzte und schwerste Stück ihres Weges zu sammeln. Schräg nach abwärts hatte sie eine Felsplatte zu überqueren, die nur von wenigen Rissen durchzogen war und so kahl erschien, daß der Blick, der aus der Tiefe hinaufspähte, kaum einen Vorsprung fand, auf dem ein Fuß hätte ruhen können.

„Unmöglich … das ist unmöglich!“ hauchte Ettingen. Sein Gesicht war weiß, und er zitterte an allen Gliedern.

„Nur Ruh’, Herr Fürst, nur Ruh’ ums Himmelswillen!“ flüsterte der Jäger. „Von droben schaut’s besser aus als wie von unt’ auf! Und sie derzwingt’s, sie hat die richtig’ Ruh’ … und nachher is alles g’wonnen!“

Ja, war dieses Schwere überwunden, dann war’s gewonnen. Denn unter der Felsplatte winkte ein Rasenfleck, auf dem sie sicher wieder rasten konnte, und nur noch so hoch über dem Griesfeld, daß ein Steinwurf ihn erreicht hätte. Wohl war dann das letzte Stück des Weges bis auf den Sand hinunter noch immer gefährlich, aber es bot in feinen Felsen doch feste Kanten für den Fuß und Schrunden für die greifenden Hände.

Noch immer rastete Lo’. Doch während sie die Arme um einen Felszacken geschlungen hielt, prüfte sie vorgebeugten Kopfes schon den Weg, den sie nehmen mußte. Und nun wollte sie ihn beginnen – man sah, wie ihre Gestalt sich streckte und ihr Arm sich zögernd von dem stützenden Schrofen löste.

Praxmaler umklammerte die Hand seines Herrn, als hätte er Sorge, daß sich die Seelenangst, die ihm aus Blick und Zügen redete, in diesen entscheidenden Minuten durch einen Ruf, durch eine unvorsichtige Bewegung verraten könnte. Doch Ettingen stand regungslos und stumm, wie zu Stein verwandelt; auch sein Atem schien erloschen, und nur seine Augen lebten noch und griffen hinauf mit ihrem Blick, wie die Angst mit Armen und Händen greift.

Dicht angeschmiegt an den Felsen, machte Lo’ mit ruhiger Vorsicht den ersten Schritt in die Platte -- einen zweiten und dritten, und während sie mit der einen Hand immer angeklammert hing an eine Schrunde, fühlte sie mit der anderen gleitend am Gestein hin, um einen neuen Halt zu finden. Zwei Schritte noch, und dann hielt sie rastend inne, mit ausgebreiteten Armen, wie an den Fels gekreuzigt. Wieder begann ihr Fuß zu tasten, ihre Hand zu suchen, denn sehen konnte sie nicht, da sie mit Körper und Wange sich an die steile Mauer pressen mußte, um das Gleichgewicht zu halten. So erkämpfte sie Schritt um Schritt, immer rastend und wieder klimmend. Oft tastete sie mit Hand und Fuß eine lange Weile am Felsen hin ins Leere, bis sie einen Tritt und einen Griff zu finden vermochte. Schon hatte sie die Hälfte der Platte überquert, und immer näher kam sie dem Rasenfleck, der sich mit festem Sockel aus der Wand herausbaute. Doch immer kürzer wurden ihre Schritte, immer langsamer und müder suchte ihr Fuß, und immer länger währte ihre Rast, als gingen ihre Kräfte zu Ende.

„Sie zittert …“ hauchte Ettingen und krampfte die Hände um die Kante des Felsblockes, daß sie weiß wurden wie Kalk.

Beängstigend lange hing Lo’ in der Felswand an eine aus der Tiefe kaum erkenntliche Rinne geklammert, dann jählings machte sie ein paar hastige Schritte, und jetzt trennte sie nur noch ein schmaler Felspfeiler von dem Rasen.

„Nur Ruh’, Herr Fürst, sie g’winnt! Sie g’winnt!“ stammelte der Jäger. Aber die Hoffnung, die er seinem Herrn einredete, schien ihm selbst zu fehlen. Denn er betete flüsternd: „O du lieber Herrgott, hilf ihr die paar Schritteln, nur die paar Schritteln noch!“

Unruhig tastete Lo’ mit dem Fuß, und immer schwerer schien ihr Körper an den Armen zu hängen, die sich länger und länger streckten. Nun fand ihr Fuß den gesuchten Tritt, aber als sie sich vorschob und ausgriff mit der Hand, wich der Stein, auf den sie getreten war – ein leiser Schrei – doch während sie schon taumelte, wagte sie noch den rettenden Sprung –

Mit stöhnendem Laut stürzte Ettingen der Felswand zu, aber da klang hinter ihm schon der Jubelschrei des Jägers.

Sausend flog der gelöste Stein aus der Wand herunter – doch Lo’ hatte im Sprung den Rasen gewonnen. Sie sank in die Kniee und wollte sich an den Felsen lehnen. Aber hatte sie den Schrei dort unten gehört und den Einen erkannt, der mit erhobenen Armen über das Schuttfeld emporstürmte? Oder löste sich, da sie an die Rettung glauben durfte, die gewaltsame Spannung ihrer erschöpften Kräfte zu einem Anfall jäher Schwäche? Ihr Kopf glitt am Felsen hin – lautlos sank sie auf den Rasen nieder und regte sich nicht mehr.

„Sie ist ohnmächtig! Hinauf!“ schrie Ettingen wie von Sinnen. „Praxmaler! Hinauf! Hinauf!“

Ehe der Jäger noch den Fuß der Wand erreichen konnte, war Ettingen über das zerklüftete Gestein schon halb bis zum Rasen emporgeklettert. Er hörte die erschrocken mahnenden Worte nicht, die ihm Praxmaler zuschrie – er stieg und stieg. Jetzt erreichte er die Bewußtlose. „Lo’ … Lo’ … meine Lo’!“ Aber der Rausch von Freude, der ihn erfüllte, als er ihre Hand erfassen konnte, verwandelte sich in neue Sorge. Wie schmal dieser Rasen war! Eine Bewegung im Erwachen – und sie mußte stürzen. Aus Angst und Liebe wuchsen ihm der Mut und die Kraft, daß er das fast Unmögliche versuchte: die Ohnmächtige über die steilen Felsen hinunterzutragen. Den einen Arm um einen Schrofen klammernd, zog er mit dem anderen die Bewußtlose an sich. Sie fiel ihm schwer entgegen, und wie leblos lag ihm ihr Kopf auf der Schulter.

Da stand schon der Jäger dicht unter ihm und stemmte den Arm an eine Kante der Felsen. „Da können S’ drauftreten, Duhrlaucht … mit aller Ruh’… meine Knochen halten’s aus!“

So stiegen sie langsam hinunter. Für jeden Schritt des Fürsten suchte der Jäger einen sicheren Vorsprung an dem Felsen, stützte ihn mit der Schulter oder hielt ihm bald den Arm, bald Wieder die Fäuste oder das Knie als Staffel hin.

Als sie den sicheren Grund erreichten, taumelte Ettingen und ließ sich niederfallen auf den Sand. Aber er fühlte die eigene Schwäche nicht, nur den Jubel, die Geliebte gerettet zu wissen, sie so zu halten, in seinen Armen, an seiner Brust! „Meine Lo’ … meine Lo’ …“ Ein anderes Wort fand er nicht, während er in Thränen ihre geschlossenen Augen küßte, ihr Haar und ihre Stirne.

Der Jäger stand vor den beiden, erschöpft, verlegen lächelnd in seiner Rührung. Dabei leckte er mit der Zunge von seiner Hand das Blut fort, das ihm über die Finger tropfte. Wohl war das Denken nicht seine Stärke – aber jetzt brachte er’s fertig, für seinen Herrn zu denken. Er eilte zu den Felsblöcken hinunter, um mit dem Hut von dem Wasser zu schöpfen, das zwischen den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0379.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2019)