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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Begegnung mit den hundert neuen Menschen, deren Herrin sie wurde, die Fahrten durch die stundenweiten Buchenwälder, und die Plauderstunden im Park, dessen welkendes Laub in der Herbstsonne leuchtete wie Gold. Jede schöne Stunde nahm sie dankbar als köstliches Geschenk aus der Hand des geliebten Mannes an – und er bot ihr, glücklich und stolz, jede neue Freude wie eine Ehre, die ihr gebührte.

Zu Anfang Oktober mußte Gustl mit seinen Büchern nach Innsbruck einrücken. Aber schon einen Monat später bekam er wieder eine Woche „Extraferien“, um der Hochzeit seiner Schwester beizuwohnen.

In der Schloßkirche zu Bernegg wurde das Paar getraut. Außer Frau Petri und Gustl waren nur Graf Sternfeldt und die Beamten des Fürsten bei dieser stillen Feier zugegen.

Als die Nachricht von dieser Vermählung in alle Winde hinausflatterte und die Gesellschaft in Verblüffung und Aufruhr versetzte, waren die beiden Glücklichen schon auf dem Weg nach dem Süden und hörten nicht, was hinter ihnen geschwatzt, gelästert und gezischelt wurde. Und hätten sie es gehört – sie würden gelächelt haben.

Bis Gustls Ferienwoche vorüber war, blieb Frau Petri auf Bernegg. Dann brachte sie den Buben wieder nach Innsbruck und kehrte nach Leutasch zurück in ihr stillgewordenes Haus. Sie hatte es nicht anders gewollt.

„Lo’, ach ja, die lebt sich ein in das Neue und wird getragen von ihrem Glück. Aber ich alte Frau? Nein! Ich will bleiben, wo ich mich festgewachsen habe durch so viel Jahre – und wo alles noch mit mir lebt, was mein Glück gewesen ist! Und wenn ich einmal die Augen schließe, soll es dort sein, wo ich das letzte Lächeln meines Mannes sah!“

Allen Bitten ihrer Kinder gegenüber blieb sie fest in diesem Entschluß. Und sie wäre doch nur den Winter allein! Die paar Monate!

„Im Mai, da kommt ihr ja! Und dann sind wir beisammen, bis der Schnee fällt!“

Trotz dieses Trostes, den sie mit heim brachte, war ihr während der ersten Tage in dem leeren Haus das Herz zum Springen weh. Und sie weinte so viel, daß ihr die Magd einmal sagte: „Frauerl, Frauerl, ein bißl was sollten S’ ja dengerst noch übrig lassen von Jhrene Aeugerln!“

Diese Mahnung fruchtete nicht. Aber was anderes half! Eines Mittags wurde die Thüre aufgerissen, Gustl flog herein und der Mutter jubelnd an den Hals. Ihm folgte ein junger Mann, der wohl eine goldene Brille trug, aber sonst ein ganz vergnügtes Gesicht machte. Er stellte sich vor als Kandidat der Philologie und „Hofmeister des fidelen Jungen da.“ Zu seiner Beglaubigung überreichte er einen Brief:

„Capri, Hotel Quisisana, den 15. November.

Liebes Mutterl! Damit Dir der erste Winter so allein nicht gar zu hart wird, haben wir beschlossen, daß Gustl ein Jahr lang zu Hause lernen soll. Haben wir’s recht gemacht? Ja?

Deine glücklichen Kinder Heinz und Lo’.“

Jetzt war geholfen gegen Thränen und Schwermut. Denn Frau Petri hatte wieder eine Sorge – jeden Tag eine neue. „Ach Gott, der Bub im Schnee! … Ach Gott, der Bub auf dem Baum! … Gustl! Dein Halstuch!“

Aber dieses Sorgenkind war ihr zugleich auch ein Tröster für die Sorge, die in die Ferne wanderte.

Wenn der Wintersturm die Mauern umbrauste und alle Fensterläden rasseln machte, dann hieß es: „Ach Gott! Bubi! Glaubst du, daß es in Capri auch so stürmt?“

„Gott bewahre, Mammi! In Capri ist ewige Sonne und immer blaues Meer. Und weißt du, wenn das Meer auch ein bißchen aufgeregt wird, dann liegt doch Capri so hoch, daß die Wellen gar nicht Hinaufkönnen. Weißt du, Capri, das ist eine riesig hohe Felseninsel! Ja, du, das war die Lieblingsinsel des römischen Kaisers Tiberius. Du, denk’ nur, den hat man bisher für den grausamsten unter den römischen Cäsaren gehalten. Aber nach den neuesten Forschungen ist das gar nicht wahr. Er soll sogar ein sehr guter Fürst gewesen sein. Aber weißt du, so gut wie Heinz war er doch nicht … davon bin ich überzeugt!“

„Ja! Gut ist er! Von Herzen gut! Lo’ hat ein rechtes Glück gemacht!“

Und die Sorge war still – für einen Tag.

Als es März wurde, gab’s eine Aufregung, die durch Wochen dauerte. Die Bilder mußten verpackt werden, um nach München zu wandern. Denn ehe sie mit Beginn des Mai zur Ausstellung kamen, sollten sie reproduziert werden für die „Kollektion Emmerich Petri“, deren Verlag eine Münchener Kunsthandlung erworben hatte.

Pepperl zimmerte die Kisten, der Förster half beim Packen – aber an jedem Bild, das in die Bretter gelegt wurde, mußte Frau Petri ihre beiden Hände haben. Und war das Tuch darüber gebreitet und drauf das Heu gedrückt, dann fielen zwei schwere Thränen dazu. Mit jedem dieser Bilder schickte sie ja ein Stück Leben, unruhvolle Tage und schlnmmerlose Nächte ihres Mannes in die Welt hinaus.

„Ach ja! … Und die Menschen! Die Menschen! … Sehen Sie, lieber Herr Förster, ich muß es ja thun, dem Namen meines Mannes zulieb … aber mir wär’s lieber, die Bilder blieben hier. Gefallen sie nicht, dann kränk’ ich mich wieder und weiß, daß ihm Unrecht geschieht … und haben sie Erfolg, dann thut’s mir weh, weil er zu spät kommt! Nein, nein, ich geh gar nicht hin zur Ausstellung! Nein, ich kann’s nicht! … Ruhm! … Könnt’ er noch eine Stunde leben und sich an seinen Kindern freuen, das wär’ ihm lieber als aller Ruhm! … Nein! Ich muß? nur weinen! Ich geh nicht hin!“ --

Sie hielt dieses Wort, ließ den Knaben mit seinem Hofmeister nach München reisen und blieb zu Hause, obwohl ihr Lo’ am ersten Tage der Ausstellung depeschierte: „Komm, Mutter, wir bitten Dich, komm und freue Dich an Papas Erfolg. Das ist wie ein seliger Rausch für mich, vor seinen Bildern diese Menschen zu sehen, in ihrem Staunen und ihrer Andacht. Die größte Wirkung von allen Bildern übt der ,Knabe Jesus unter den Faunkindern’. Wie sich die Menschen vor diesem Bilde drängen, das mußt Du sehen. Komm doch, Mutter, komm! Wir alle bitten Dich, Heinz und Gustl und Deine Lo’.“

Als sie gelesen hatte, saß sie lange, lange, immer die Depesche vor sich, und ihre Zähren tropften nieder auf das Blatt.

„Nein, Kinder, nein! Ich kann nicht! Freut euch nur, ach ja … und laßt mich daheim! Ich kann jetzt diese Menschen nicht jubeln sehen! Ich kann nicht! Ich hab’s doch mit erlebt, wie sie gelacht haben über ihn … und wie er die Nächte lang in meinen Armen lag und weinte, als ob es ihm das Herz zerreißen möchte! Ach, ihr Menschen! Ihr Menschen! Euer Jubel … der macht ihn mir nicht mehr lebendig! … Nein! Ich geh’ nicht hin!“

Die Depesche in den zitternden Händen, saß sie in der Herrgottsecke des Wohnzimmers. Ganz erschöpft vom Weinen, lehnte sie den müden Kopf an die Mauer und blickte gegenüber auf die leere Wand, an welcher das große Bild gehangen hatte: „Der Knabe Jesus unter den Faunkindern“. Das Viereck, das der Rahmen mit der Leinwand so viele Jahre bedeckt hatte, war weiß, wie frisch getüncht, während rings herum der Kalk vom Lichte schon vergilbt war. Ein großer Haken ragte aus der Mauer.

Aber zu so viel hundert Malen hatte sie dieses Bild betrachtet, vor dem sich jetzt in der fernen Stadt die Menschen drängten – es war ihr so lebendig in die Erinnerung geprägt, daß sie es so deutlich sah, mit jeder Linie und jeder Farbe, als ob es wirklich vor ihren Augen hinge.

Ihre Thränen waren versiegt, ein glückliches Lächeln verschönte ihre welken Züge, und wie in Andacht hielt sie die Hände im Schoß, während ihre Blicke mit bewunderndem Schauen an der leeren Mauer hingen.

Breit fiel die Maiensonne durch die Fenster, und manchmal huschte etwas wie ein dunkler Falter durch diese Helle – der Schatten einer heimgekehrten Schwalbe, welche draußen das Haus umflog.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0384.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2020)