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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

8.

Vierzehn Tage waren vergangen und die Reisenden, von den italienischen Seen und Verona kommend, beschlossen, in Venedig zu bleiben. Onkel Fritz sah merkwürdig fahl aus und seine Haltung war auffallend ermüdet. Deshalb bat Susanne ihn, doch ihretwegen nicht so schnell weiter und nach Rom zu streben, was ihr als das höchste Ziel zwar vorschwebte.

„Was meinen Sie, Sabine?“ fragte er.

„Und wenn wir Rom gar nicht zu sehen bekämen,“ sprach sie, „Sie sollen sich um unsertwillen nicht ermüden. Lassen Sie uns zwei, drei Wochen still in Venedig bleiben.“

Er nickte beifällig.

Und Sabine jubelte innerlich. So war es auch am bequemsten für Achim. Sein Manöver mußte gerade an demselben Tage zu Ende sein, wo sie in Venedig einfuhren. In zweimal vierundzwanzig Stunden konnte er da sein.

Im „Hotel Royal Danieli“ fanden sie eine reizende Wohnung im Mezzanin. Ein kleiner Salon mit zwei Fenstern ging gerade auf eine der Treppenbrücken, welche die engen Kanäle überschlagen. Wenn Sabine und Susanne sich gegen die balkonartigen Fenstergitter lehnten, konnten sie den Leuten ins Gesicht sehen, die treppan und treppab gingen. Rechts dehnte sich die Riva degli Schiavoni bis zur Piazetta hinauf, links schweifte der Blick über das großartige Denkmal Viktor Emanuels hinweg bis zu den grünen Baumwipfeln des Giardino pubblico. Und gerade vor ihnen wogte das grüne, von ockerfarbenen Tinten überflimmerte Wasser des Canale grande. Drüben auf der Insel erhob sich der steife Turm der Kirche Sän Giorgio Maggiore vor dem tiefblauen Septemberhimmel.

Sie wurden nicht müde, auszugucken und das seltsame Schiffs- und Straßenleben zu beobachten. Da die Unterströmung eines beständig forttönenden Straßenlärms fehlte, da kein Wagenrasseln, kein Pferdebahnrollen sich endlos fortspann, so wurde jeder Einzellaut vernehmbar und eindringlicher für das Ohr. Heulend ging zuweilen der Ton der Dampfpfeifen durch die Luft, wenn eins der Lidoschiffe abfuhr, oder dumpf und lang’ schwoll ein Nebelhornsignal über das Wasser, wenn ruhevoll ein großer Ueberseeer vom offenen Meere hereindampfte in den Kanal. Auch das Sprechen und Lachen der vorbeigehenden oder auf dem breiten Quai stehenden Menschen war vernehmbar.

Alles schien so persönlich, so übersichtlich. Kein Großstadtlärm, keine rohen, unentwirrbaren Geräusche verschlangen die Laute menschlichen Lebens. Es war, als habe es Platz und Zeit, sich hier vernehmlich zu machen, sich hier voll auszubreiten.

Und doch war keine Stille und keine Enge in dem Straßenleben. Dazu war es zu laut und zu rastlos.

Die internationalen Reisetypen störten fast das Auge.

Aber die einheimische Bevölkerung gab farbenbunte Freudigkeit. Die Damen mit kühnen hellen Hüten und Kleidern, die Mädchen aus dem Volk mit lockeren, leuchtenden Blusen und Papierfächern, die brachten Lustigkeit in das Bild der wogenden Menschenmenge. Neben diesem Salon, der ihnen so tausendfach wechselnde Ausschau bot, lag, auch nach vorn, Sabinens Zimmer.

Nach der Seite des schmalen Kanals folgten zwei Stübchen, die Onkel Fritz und Susanne innehatten. Es war eine kleine, in sich abgeschlossene Wohnung und wurde nur im ganzen vermietet. Um das beste, nach vorn gelegene Schlafzimmer entspann sich zunächst ein Kampf. Sabine wollte, daß Onkel Fritz es nähme. Aber er bestand allerorten darauf, daß Sabine das beste Gemach bekam. Susanne behandelte er immer wie sein liebes Kind, Sabine wie eine große Dame.

Vielleicht regte sich in seinem alten Herzen die Ritterlichkeit. Jedenfalls fühlte Sabine, daß er ihrer Person viel Wichtigkeit beimaß. Das rührte sie und that ihr wohl. Aber sie vermochte niemals mit unbefangen töchterlicher Zärtlichkeit dafür zu danken wie Susanne. Es war immer, als stände etwas zwischen ihr und dem alten Herrn.

Habe ich denn ein schlechtes Gewissen, weil ich unter seinem ahnungslosen Schutz Achim sehen will? dachte Sabine.

Und es war ihr unbehaglich, wenn der alte Herr unter seiner vorgeneigten Stirn heraus sie mit seinem stillen, schmerzlichen Lächeln so stetig und so besonders ansah. Sie konnte dann plötzlich erröten und schnell fortblicken.

Die Museen und Kirchen ließ Onkel Fritz die beiden Damen allein besehen; er kannte alles und sagte, er werde gelegentlich still für sich hingehen, dies und jenes künstlerische Wiedersehen zu feiern. Sabine hatte eine Fiebereile, in den ersten zwei Vormittagen so viel zu sehen, als ihre Kräfte nur irgendwie erlaubten.

Wenn „er“ da ist, wollen wir nicht zwischen anderen Gaffenden in den Kirchen umherstehen. Dann wollen wir in der Gondel uns still auf allen Kanälen umhertreiben.

Daß dieses Zusammentreffen in Italien von ihr geplant und verlockend hingestellt worden war, um gemeinsam Kunst zu genießen, hatte sie vergessen.

Sie dachte nur ihn und wollte nur ihn. Die ganze märchenhaft schöne Welt war ihr bloß Rahmen, bloß Schauplatz. Sie war nur gekommen, um, frei von Zwang und Heimlichkeit, als Mensch mit dem einzigen Menschen zu verkehren.

Es war am dritten Tag. Sie fuhren in der Gondel nach dem Lido hinaus, um draußen auf dem Altan des Badeetablissements ihren Nachmittagsthee zu nehmen. Onkel Fritz benutzte nie das Dampfschiff. Auch die Eisenbahn war ihm verhaßt, aber leider unvermeidlich auf Reisen. Alle rohen Geräusche, alles Hasten und Durcheinanderdrängen von Menschen mied er gern.

Die Sonne stand am Himmel, man konnte nicht zu ihr emporsehen, ein gleißendes Flimmern und Funkeln machte die Linien ihres weißen Balles unkenntlich. Hitze zitterte in Wellen über Wasser und Land. Aber sie drückte nicht. Ihr Atem war leicht.

Leise tauchte der Gondelier sein langes, schwarzes Ruder in die Flut. Man spürte immer den kleinen Ruck, wenn er, mit festem Druck gegen den Gondelrand, neu ausholte. Vorn am Kiel, unter der hochragenden, eisenverzierten Spitze, gluckste und plätscherte es rinnend.

Zum Horizont hinab schien der Himmel bleicher zu werden. Da stand das weißgraue Häusergebreite von Venedig, sich aus den Wassern hebend. Türme und Kuppeln ragten, auf der goldenen Weltkugel der Punta della Salute blinkte der Sonnenschein. Eine Welt, schön wie ein Traum und still wie ein Traum.

In der Gondel sprach niemand ein Wort. Sabine lehnte neben dem alten Herrn an den Kissen des Hauptsitzes, auf einem der winzigen Seitenstühlchen saß Susanne.

Susanne dachte, daß morgen vielleicht schon aller Friede sich in heimliche Angst gewandelt haben möge, wenn Achim von Körlegg käme, und quälte sich damit, ob es nicht eine Pflicht sei, Onkel Fritz einzuweihen. That sie das, verriet sie Sabine, und that sie es nicht, verriet sie Onkel Fritz. Zwar hatte Sabine ihr in ihrer gewohnten leidenschaftlichen Art gesagt, sie werde sofort offen mit dem alten Herrn reden, sobald sie nur selbst erst die Sicherheit über ihre Geschicke habe. Daraus entnahm Susanne dann, daß Sabine der Gegenliebe Achims noch keineswegs sicher sei, oder wenigstens nicht seines Willens, sich über das furchtbare Hindernis hinwegzusetzen. Es quoll so etwas wie Stolz und Freude in Susanne auf: wenn ich mir das nicht so von ihm gedacht hätte! Aber dann kam eine riesengroße Angst: was wird mit Sabine werden?

Der alte Herr dachte auch viel, sehr viel, als sie so still dahinfuhren, grünschillernde Wogen nahe dem Auge, den morgenländischen Farbentraum der Stadt fern als Hintergrund und den stolzen Himmel über sich.

Er dachte über die schöne Frau nach, die neben ihm träumte. Er glaubte den feinen Duft zu spüren, der aus ihrem Haar kam, und die Falten ihres leichten weißen Kleides lagen wie Bleigewicht auf seinem Knie.

In seiner Seele war eine Stimmung aus Wehmut und Bitterkeit gemischt, und er dachte: Es giebt Menschen, die förmlich vorbestimmt sind, selbst zu leiden und andere leiden zu machen. Solch ein Mensch ist sie.

Er sah die lodernde Leidenschaft ihres Wesens und fragte sich: Wohin will die? Was wird sie noch aus sich, was aus andern machen?

Er hätte ihr Schicksal voraussehen, es lenken, beschützen mögen. Und er war nur ein alter, müder Mann.

Sabine allein dachte nichts. Sie ahnte nicht einmal, daß sie die Gedanken ihrer Gefährten so in Bewegung setzte.

Sie saß reglos. Sie atmete kaum. Sie empfand nur.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0396.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2021)