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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

und gewandt eine Plauderei mit beiden Herren zugleich zu unterhalten verstand? War das eine Kunst, die man in der Welt lernte, wenn man durch Unglück und Leidenschaft dahin gekommen war, sich eine Maske vorzubinden? Freilich sie, die sie Sabine so genau kannte, sah es ja doch, daß in ihr alles in Aufruhr war. Bleich wie der Tod war sie und ihre Augen schienen beinahe schwarz. So unheimlich schön sah sie immer aus, wenn sie sich in tobender Aufregung befand. Unfaßlich! Und dennoch sprach ihr lachender Mund von der Schönheit ihrer Reise und den Vorzügen ihres Quartiers im Hotel Royal Danieli. Achim seinerseits erzählte, daß er bei Bauer-Grünwald wohne.

Und die ganze, im Grunde doch so kurze Bekanntschaft, die man vor drei Wochen in dem Unwetter der Manövertage gemacht hatte, nahm hier im fremden Land sogleich den Charakter einer alten Freundschaft an. Man verabredete alsbald, heute zusammen zu dinieren, am Abend auf der Piazza zusammen das Konzert zu hören, am andern Tag eine Partie nach Murano zu machen.

Susanne konnte es nicht fassen.

Sie hätte nur ahnen sollen, daß gerade ihre sichtbare Aufregung bei der Begegnung mit Achim von Körlegg den alten Herrn bestimmte, so eifrig und so freundschaftlich dessen Gesellschaft anzunehmen. Onkel Fritz hatte noch nie gesehen, daß sein klaräugiges Mädchen um eines Mannes willen errötend aus der Fassung gekommen war.

Dafür gab es natürlich, seiner Meinung nach, nur einen Grund. Der Grund gefiel ihm! Da konnte sich etwas Erfreuliches anspinnen! Für seine Susanne ein gesundes Glück, das ihr die Buchhalterinexistenz abschnitt, noch ehe sie begonnen war. –

Auch die höchsten Erregungen schwingen aus. Sabinens äußere Fassung ward bald auch eine innerliche. Ein leuchtendes, sicheres Glücksgefühl erhellte ihre Seele. Und als Susanne sah, daß nichts Erschreckendes sich begab, daß kein Blitz herniederfuhr und die ganze Welt ebenso strahlend schön und vergnügt blieb wie vorher, als sie Onkel Fritz in Behagen, die anderen beiden in wahrer Sicherheit plaudern hörte, ward auch ihr wieder mutiger ums Herz. Sie fing an, mitzusprechen, traute sich, Achim zu betrachten, und fand bei sich, daß sein Reisecivil ihn jünger aussehen lasse als die strenge Uniform, und gestand sich, daß er der vornehmste, edelste, imponierendste Mann sei, den sie je gesehen.

Die arme, arme Sabine! Warum hatte gerade er ihren Gatten erschießen müssen! Verzeihlich war es gewiß, daß sie sich fortgerissen fühlte, diesen Mann zu lieben.

Aber nein – sie, als erfahrene Frau, sie hätte das Gefühl gleich erkennen und fliehen müssen. –

Sabine schwamm auf den tragenden Wogen einer wahren Hochflut von Lebensfreude. Ihre Augen strahlten. Sie war schön wie noch nie. Ihr Wesen war üppig und geheimnisvoll, kühn und verheißend, wie diese Stadt, wie die südliche Sonnenwärme, wie das halblaute, drängende Treiben der Menschen, wie der flimmernde Himmel über ihnen!

Am Abend saßen sie auf der Piazza, welche die prangenden Mauern stolzer Paläste umschranken, die Fassade der bunten Markuskirche abschließt. Sterne blinkten droben. Die Luft strich lau über den Platz. Im Halblicht der Gasflammen drängte sich wie ein unklares Farbengewoge die Menge. Unsicher beleuchtet, gleißten die bunten Mauern der Kirche wie ein Geheimnis des Orients herüber. Schmachtend und eindringlich schwollen die Weisen der Tannhäuserouverture durch die Nacht, mit der Gewalt ihres dämonischen Verlangens die banalen Menschenstimmen überdröhnenh.

Und auch in Sabinen schwoll das Verlangen, ganz glücklich zu werden. Ihre Seele war bereit, jubelnd weit geöffnet, das eine Wort zu vernehmen, das die Krönung ihres Lebens werden sollte.

Eine unbändige Sehnsucht, mit ihm, den sie liebte, allein zu sein, überfiel sie plötzlich und trauervoll. Sie hätte die Wahrheit wissen mögen. Jetzt gleich – entscheidend über Tod und Leben. Dringend ins Auge hätte sie ihm schauen mögen, sein geheimstes Innere mit ihrem Blicke durchforschend.

Liebst du mich – liebst du mich? schrie alles in ihr.

Ihre Rechte krampfte sich in die Falten ihres Kleides. Ihr war es, als müßte sie irgend etwas anpacken, fest, fest, um sich Halt zu geben, um ihre Sehnsucht und ihre Not nicht hinauszurufen, um die Arme nicht auszubreiten.

Alles schien sich zum Körperlichen zu wandeln: der hohe, dunkle Himmel, die laue, streichende Luft, die Märchen und Geheimnisse, die von den Farben der Kirche im durchhellten Dunkel wirkten, die zehrende Qual der Musik!

An ihr Herz hätte sie das alles pressen mögen, an ihr großes heißes Herz, darin sie alles fand, was außer ihr war, und noch tausendfache Reichtümer mehr. Ein Menschenherz! Und so voll, so zersprengend voll Glück, Qual, Sehnsucht.

Ein Seufzer zitterte von ihren Lippen. Er, dem all dies galt, hörte den Seufzer und sah die Hand, die sich in das Gewand krallte. Und leise suchten seine Finger die ihren. Er wollte ihr sagen: Sei ruhig! Oder er bildete sich wenigstens ein, daß er ihr das sagen wollte. Denn auch sein Herz klopfte, und er war trunken von der glühenden Schönheit der dunklen Stunde.

So saßen sie und fanden den Mut zurück, Anteilnahme an ihrer Umgebung zu zeigen, während ihre Pulse bang klopften. –

An diesem Abend fiel Susanne dem alten Herrn weinend um den Hals, als Sabine sich zurückgezogen hatte.

„Ach, Onkel,“ rief sie, „wenn du wüßtest, wie das Leben schwer ist!“

Er lächelte sein müdes Weltweisenlächeln.

„Wirklich – so schwer? Fasse dich nur! Mit den Schwierigkeiten, die sich dir jetzt herandrängen, wirst du schon fertig werden, ahnt mir.“

„Ach – du weißt ja nicht! Wenn ich doch wüßte, wie ich dir klar machen soll …“

Er streichelte ihr geduldig die Wange. Er hatte ein gewisses nachsichtiges Interesse an dem, was er für die Verliebtheit eines verständigen Mädchens hielt, das sich demnächst mit einem netten Mann zu verloben hofft.

„Werde dir nur erst selber klar,“ mahnte er herzlich, „und sei sicher, daß auch sonst alles klar ist. Vorher spricht man nicht.“

Susanne versuchte sich zu fassen und schickte sich an, nach einem etwas flüchtigen „Gute Nacht“ das Zimmer zu verlassen. Der alte Herr in seiner Weichheit glaubte, seine Abweisung möge etwas rauh gewesen sein, und sagte noch: „Du, Susanne, nicht wahr, Herr von Körlegg macht den Eindruck eines Mannes von ausgezeichnetem Charakter? Mir gefällt er sehr gut. Wie heißt er mit Vornamen?“

„Achim,“ brachte Susanne heraus und rannte davon.

In ihrem Zimmer saß sie dann auf ihrem Bettrand und konnte sich nicht fassen.

Wie schelmisch Onkel Fritz das gesagt hatte! So neckisch. Wie kam er dazu? Was bedeutet das? Doch nur das eine, daß er annahm, sie, Susanne, sei in Herrn von Körlegg verliebt!

Welche Annahme! Als ob irgend eine Menschenphantasie sich so etwas in Wahrheit vorstellen könne! Sie, die junge Susanne, die nichts war, nichts hatte, nichts leistete, sie sollte ihre Augen zu „ihm“ erheben?

Wenn Onkel Fritz wüßte!! Sabine würde ihr doch nicht den kleinsten, den geheimsten Gedanken an „ihn“ erlauben.

Plötzlich erwachte so etwas wie Trotz in Susannen. Nein, dazu hätte Sabine kein Recht, ihr zu verbieten, ihn zu lieben! Und wenn man denn alles abwog, so müßte man sogar eingestehen, daß nichts in der Welt als Hindernis zwischen ihr selbst und „ihm“ stehe, während er von Sabine doch durch einen Abgrund getrennt war. Also, wenn schon von einem Recht die Rede sein sollte in dieser Sache, so hatte sie ein besseres Recht, ihn zu lieben, als Sabine.

Wenn – wenn – dachte Susanne und lachte mit einem Mal in sich hinein, das sind ja nur dumme Gedanken, infolge von Onkels Mißverständnis. –

Die Stunden und die Tage rannen. Sie hatten vielfachen Inhalt, aber da über ihnen allen dasselbe prangende Bild venetianischen Sonnenscheins lag, war doch eine gewisse Einheit der Stimmung in ihnen. Und sie entglitten so schnell, wie nur Stunden des Genusses können. Man zählt sie nicht und wird dann und wann mit Entsetzen inne, daß doch schon so viele von den zugemessenen dahin sind.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0399.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2021)