Seite:Die Gartenlaube (1899) 0407.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

die Chronik, daß man der so beraubten Kirche die Glocken ließ. Das Mobiliar des Schlosses wurde gleichfalls, auf Befehl von Kassel aus, verkauft.

Als Quedlinburg, nach Napoleons Sturz und Internierung auf Elba, wiederum an Preußen kam, entsagte die Frau Aebtissin ihrer Regierung und nahm vom König von Preußen eine Entschädigung an; die Stiftsbedienten behielten bis zu ihrem Tode die Gehälter.

Dann sind die Jahre gekommen und haben die großen Gemächer verödet.

Nur der Fremde geht nachdenklich ob des Wechsels alles Irdischen über das kunstvolle Parkett des Krönungssaales und durch die Zimmer, die Friedrich Wilhelm IV bewohnte, wenn er hier der Jagd oblag, betrachtet die Bilder, darunter eines, welches den Dichter des Frühlings, Ewald von Kleist, darstellt, die ziemlich unkünstlerische Kopie eines trefflichen Originals, welches sich im Besitz meines Vaters befindet, und läßt sich von der Frau Kastellanin verschiedene Raritäten zeigen, die in einem Wandschrank aufbewahrt werden, unter anderem herrliches altes Zinngerät mit dem Stiftswappen, eine Theekanne des Großen Friedrich und – angeblich – einige Knochen aus dem Grabe Heinrichs I.

Dann bewundert man eines der reizvollsten Städtebilder, die es giebt.

Blick vom Schloß auf die Stadt.

Am eigenartigsten ist es von den Gemächern aus zu sehen, die Aurora bewohnt haben soll. Da steht ein alter Lehnsessel in der Fensternische, und wer dort sitzt, der erblickt den „Münzenberg“, einen Hügel, auf dem ehemals das dem Stifte gehörige Marienkloster stand, und der jetzt ein Dörfchen trägt, dessen Bewohner zu meiner Kinderzeit sich noch eines eigenartigen Rufes erfreuten; sie waren dazumal nicht g’rad’ beliebt in der Stadt. Die Männer zogen meistens als sogenannte Bettelmusikanten in der Welt umher, die Frauen blieben daheim mit ihren Scharen von ungezogenen Kindern, sofern nicht die eine oder andere, behufs Absingung von gruseligen Mordgeschichten, sich ihrem Eheherrn anschloß. Das Dorf besitzt übrigens noch heute seinen eignen Bürgermeister, und seine Einwohner sind mit der Zeit, wie unsre Begleiterin uns mitteilt, kreuzbrave Leute geworden.

Vom Nordfenster aus sieht man wunderbare Dachmotive. Meine kunstverständigen Begleiterinnen versichern es; und in der That, dies Gewirr von roten Dächern und spitzen Giebeln, diese altersgrauen zum Himmel aufsteigenden Türme, diese stolzen Kirchen, St. Nicolai, St. Blasii, St. Aegidii und wie sie alle heißen, sind einzig stimmungsvoll.

Man denkt sich hinein in die Seele einer jener fürstlichen Frauen, wie sie im Abendscheine hier am Fenster gestanden haben mag, sich freuend über die treue gute Stadt, die so friedlich zu ihren Füßen lag und unter einer segensreichen Regierung sich wohl fühlte. Ob nicht auch manche Blicke ihrer schönen Augen über die Stadt hinaus in weite Fernen geschweift sind, in denen sie ein Glück gelassen hatte, um dieser Würde teilhaftig zu werden? Wer kann es wissen!

Eins aber weiß ich! Wehmütiger mag ihr auch nicht zu Mute gewesen sein als mir, da ich dort stand und hinabschaute auf das Meer der roten Dächer, auf die engen Gassen, und nun mein Auge hängen blieb an einem langgestreckten Hause, in dem vor vielen Jahren meine Eltern wohnten mit uns Kindern.

Was hat man nicht erträumt und erhofft von der Zukunft unter diesem Dache, wie hat sich das Kinderherz hinausgesehnt in das weite unbekannte Leben, welche glühenden Hoffnungen knüpfte man nicht an die Zukunft! Und nun ist der größte Teil des Lebens vorübergezogen, zuweilen so ereignislos, als stehe es still, zuweilen wie die Wogen eines erregten Meeres, die uns verschlingen wollten. Dann wieder strahlender Sonnenschein und oft trübes Wetter und Regenflut, aber alles so anders, so ganz anders, als man erhoffte. Und nun steht man da mit grauen Haaren, und die Thränen verschleiern das Bild des alten Hauses da unten. – Meine Gefährtinnen reißen mich aus meiner Versunkenheit, zum Aufbruch mahnend. Sie haben mit der Frau Kastellanin verabredet, daß sie morgen wiederkommen werden mit ihren Skizzenbüchern.

Als wir, von ihr geleitet, wieder hinaustreten ins Freie, da liegt noch der vollste Sonnenschein über dem Schloßhof, und die Rosen des Gärtchens senden uns ihren Duft entgegen.

Die Luft ist erfüllt von Glockengeläute, in der Schloßkirche findet eine Trauung statt.

Frisches, neues Leben überall; die Vergangenheit schläft, schläft wie Kaiser Heinrich, wie die stolzen Aebtissinnen und die schöne Aurora von Königsmark, wir aber wachen noch und leben. Und Deutschland hat wiederum einen Kaiser!

Gott schütze Kaiser und Reich!




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0407.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2021)