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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Aussehen zeigte, wurde geöffnet und die zusammengekauerte Gestalt des Fakirs herausgeholt.

Der Körper war völlig steif. Ein anwesender Arzt stellte fest, daß nirgends am Körper eine Spur von Pulsschlag zu bemerken war. – Inzwischen übergoß der Diener des Fakirs dessen Kopf mit warmem Wasser, legte einen heißen Teig auf seinen Scheitel, entfernte das Wachs, mit dem die Ohren- und Nasenlöcher fest zugeklebt waren, öffnete gewaltsam mit einem Messer die fest aufeinandergepreßten Zähne, zog die nach hinten umgebogene Zunge hervor, die immer wieder in ihre Stellung zurückschnellte, und rieb die geschlossenen Augenlider mit Butter.

Alsbald fing der Fakir an, die Augen zu öffnen, der Körper begann konvulsivisch zu zucken, die Nüstern wurden aufgeblasen, die vorher steife und runzelige Haut nahm allmählich ihre normale Fülle wieder an und wenige Minuten später öffnete der Fakir die Lippen und fragte mit matter Stimme den Runjeet Singh: ‚Glaubst du mir nun?‘“ –

Es ist nicht leicht, zu sagen, wie man sich zu einem solchen Bericht stellen soll. Nehmen wir als erwiesen an, daß der Fakir während der sechs Wochen das Gebäude nicht verlassen hat, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß er nun auch wirklich die ganze Zeit in dem versiegelten Sack gelegen hat. Nach den Produktionen, die wir heutzutage oft von geschickten Taschenspielern und von Spiritisten zu sehen bekommen, erscheint eine Täuschung durch den Fakir leicht möglich. – Viele unserer Leser werden schon in sogenannten antispiritistischen Vorstellungen erlebt haben, wie sich eine gefesselte Person im Dunkeln auf irgend welche Weise von ihren versiegelten Fesseln befreit, um dann nach Ausführung von allerhand Spuk schließlich wieder gefesselt aufzutauchen, mit unversehrten Siegeln. Hiergegen erscheint das, was der Fakir zu thun hätte, kinderleicht.

Verdächtig erscheint gerade die Einmauerung des Fakirs, die ja übrigens, wie aus dem Bericht hervorgeht, keine luftdichte war; der Raum hatte eine Thür, es kam also Luft hinein. Weit überzeugender wäre das Ganze, wenn der Fakir, uneingemauert, für alle sichtbar, dagelegen hätte.

Wenn wir nun aber auch einmal annehmen wollen, der Fakir habe während der sechs Wochen wirklich in seinem Sacke gelegen, so wissen wir damit noch immer nicht, ob sein Zustand während dieser Zeit thatsächlich als Scheintod bezeichnet werden kann. Es wäre ganz gut möglich, daß der Fakir in seiner Kammer die ganze Zeit teils schlafend, teils wachend in beschaulicher Ruhe zugebracht hat, vielleicht dabei fastend – wir kennen ja solche Hungerkünstler auch in Europa, und die Indier mögen darin noch weiter gekommen sein –, vielleicht kann er auch etwas Nahrung mit eingeschmuggelt haben.

Der Täuschung verdächtig sind alle bis jetzt beschriebenen Fälle – es braucht natürlich nicht eine so grobe Täuschung zu sein, wie man sie kürzlich bei einigen Fakiren entdeckte, die in Europa Gastrollen gaben und zu der Zeit, wo sie scheintod in ihren Särgen liegen sollten, von der auf eine Denunciation hin eindringenden Polizei dabei betroffen wurden, wie sie auf ihren Särgen saßen, Bier tranken und – glaube ich – Skat spielten.

Jedenfalls aber geben die Berichte über die Fakire, selbst wenn man gar keine absichtliche Täuschung dabei annimmt, uns keinen Beweis dafür, daß diese Leute imstande wären, wirklich ihre Lebensfunktionen ganz zu unterbrechen, namentlich das Herz und die Atmungsorgane zum völligen Stillstand zu bringen.

Mir scheint es am glaubhaftesten, daß diese Leute – ohnehin sehr bedürfnislos – sich durch Selbsthypnotisierung in einen Zustand verminderter Lebensthätigkeit und völliger Ruhe hineinbringen, der mit dem Winterschlafe mancher Tiere Aehnlichkeit haben mag, den Namen Scheintod aber doch kaum verdient.

Der Hokuspokus, der von diesen Leuten aus begreiflichen Gründen um ihre Produktion herum gemacht wird, erschwert uns eine klare Einsicht in das, was daran echt ist, natürlich sehr.

Wenn wir nun überlegen, was als wesentlichstes Ergebnis aller der genannten Beobachtungen über Scheintod zu bezeichnen wäre, so scheint das mir darin zu liegen, daß der Scheintod beim Menschen sich stets nur als eine Verminderung der Lebensthätigkeit darstellt, infolgederen bei einer nicht allzusorgfältigen Untersuchung der Eindruck der Leblosigkeit entstehen kann. Eine Aufhebung der wichtigsten Lebensfunktionen, ein Stocken des Blutumlaufs und der Atmung, im weiteren überhaupt ein Erlöschen des Stoffwechsels und der Reizbarkeit anzunehmen, haben wir jedoch keinen Grund. Wir müssen annehmen, daß das Herz auch beim scheintoten Menschen noch immer schlägt, wenn auch schwach. Damit ist dann aber auch ein gewisses geringes Maß von Stoffwechsel gegeben, da auch das arbeitende Herz stets Material, speciell auch Sauerstoff verbraucht und dafür Kohlensäure produziert.

Anders als beim Menschen liegen in Bezug auf den Scheintod die Verhältnisse bei gewissen Tieren. Da sind Beobachtungen gemacht worden, die sehr stark für einen vorübergehenden Stillstand der Lebensvorgänge sprechen.

Wir müssen freilich gleich einen großen Sprung im Tierreiche machen, nämlich zu den sogenannten niederen Tieren. Ich kann hier natürlich aus dem großen Material von Thatsachen, die vorliegen, nur einiges wenige nennen.

In dem trockenen Staube, den man von alten Dachrinnen abkratzen kann, und in dem Moos an alten Baumstämmen findet man zuweilen kleine Tierchen in vollkommen eingetrocknetem Zustand, ihrem Aussehen nach kaum von einem Sandkörnchen zu unterscheiden. Nur wer sie oft in dem trockenen Zustande gesehen hat, kann in diesen formlosen Klümpchen überhaupt etwas Tierisches vermuten. Von irgend welcher Bewegung ist gar nicht die Rede. Bringt man solche eingetrocknete Tierchen aber ins Wasser, so sieht man bald, daß sie nicht tot, sondern scheintot sind. Sie quellen auf, der Körper dehnt sich aus, wird durchscheinend und nimmt schließlich eine bestimmte tierische Form an.

Es sind zum Teil die sogenannten Rädertierchen, mikroskopisch kleine Geschöpfe, die mit den Würmern verwandt sind und an ihrem Vorderende ein sogenanntes Räderorgan besitzen, einen Kranz von Haaren, die in fortwährender zitternder Bewegung sind und mit deren Hilfe das Tier im Wasser vorwärts schwimmt. Andere derartig scheintote Geschöpfe sind die Bärentierchen oder Tardigraden, wie man sie wegen ihrer langsamen plumpen Bewegungen nennt. Sie haben acht kurze Beinchen und sind mit den Milben und Spinnen verwandt.

Man giebt an, daß diese Tierchen den Zustand der Austrocknung, in dem sie natürlich keine Nahrung aufnehmen können, jahrelang ertragen. Dies ist also ein typischer Fall von Anabiose, von Wiederaufleben nach einem totähnlichen Zustand. Er steht aber durchaus nicht vereinzelt; auch die Kleisterälchen, kleine fadendünne Würmchen, die in Weizenkörnern leben, können nach dem Eintrocknen wieder aufleben.

Am weitesten verbreitet ist aber die Anabiose bei niedersten Geschöpfen, die auf der Grenze von Tier- und Pflanzenreich stehen, und die man unter dem Namen Protisten (d. h. die ersten ursprünglichsten Geschöpfe) zusammengefaßt hat. Die Sache liegt aber bei ihnen etwas anders als bei den Bären- und Rädertierchen. Die Infusorien und Bakterien vermehren sich außerordentlich schnell, entweder dadurch, daß das kleine Geschöpf sich einfach in zwei Hälften teilt, die dann getrennt weiterleben und wieder bis zur ursprünglichen Größe heranwachsen, oder dadurch, daß der Leib in lauter kleine Körnchen zerfällt, die man als Sporen bezeichnet und welche die Eigenschaft haben, daß aus jedem von ihnen wieder ein ganzes Infusorium oder Bakterium entstehen kann.

Sind nun die äußeren Lebensbedingungen für diese Geschöpfe ungünstig, fehlt es beispielsweise an dem zum normalen Leben notwendigen Wasser, oder an Luft oder Nahrung, so werden Sporen von einer ganz besonderen Art gebildet, sögenannte Dauersporen, welche die Eigenschaft haben, gegen äußere Einflüsse außerordentlich widerstandsfähig zu sein. Sie bestehen aus einer mikroskopisch kleinen, äußerst festen Kapsel, die in ihrem Innern den eigentlich lebenswichtigen Teil, das Protoplasma, birgt. Durch die Kapsel wird die kleine Menge Wasser, welche zum Bestande eines lebensfähigen Keimes notwendig ist, zurückgehalten, auch wenn die Dauerspore lange Zeit an trockener Luft liegt, wenn sie, wie man zu sagen pflegt, lufttrocken geworden ist.

Solche lufttrockene Sporen ertragen nun Einwirkungen lange

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0412.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2021)